In einiger Entfernung konnte Jana eine Insel erkennen. Was wollten sie dort mit ihr? Wollten sie Jana entführen und sie auf der Insel ansiedeln? Sie konnte sich wirklich keinen Reim aus dem Ganzen machen. Wenn Miguel sie hätte haben wollen, hätte er sie jederzeit in ihrer Kajüte haben können, sie war ja mehr als bereit dazu gewesen. Im Stillen ärgerte sie sich, wie leichtsinnig sie gewesen war und wie schnell sie sich mit diesem falschen Piraten eingelassen hatte. Sie blickte zu ihm hinüber. Er guckte, in Gedanken versunken, übers Meer, dann zu ihr. Anscheinend hatte er ihre Musterung bemerkt. Schnell wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem immer näher kommenden Festland zu.
»Was wollen wir dort?«, fragte Jana über den Motorenlärm.
»Mund halten«, fauchte Juan.
»Wenn Sie mich schon entführen, dann hab ich wohl das gute Recht, zu erfahren, wo ich hingebracht werde.«
»Wenn ich dir das erzählen würde, Schätzchen, wäre es doch keine richtige Entführung mehr, oder?«
»Sie sind also Miguels Bruder?«
Verblüfft starrte er sie an, dann fand er seine Sprache wieder. »Halt den Mund, sonst werfe ich dich den Haien vor!«
»Hey, hör auf, Juan!«, sagte Miguel.
»Idiot«, zischte er und guckte aufs Meer.
»Das ist also kein Piratenstreich, der zur Belustigung aller Passagiere beitragen wird?«, fragte Jana.
»Nein, kein Streich, alles echt«, antwortete Miguel.
Schließlich näherten sie sich dem Strand. Die Sonne schob sich gerade über den Meeresrand und brachte Wärme mit.
Juan sprang ins Wasser und streckte die Arme nach Jana aus. Sie stand auf und ließ sich von ihm über den Bootsrand heben. Das Wasser reichte ihr bis zu den Oberschenkeln und tränkte sofort ihren langen Rock.
Jana blickte zum Boot zurück.
»Nun komm schon, Mädchen, Miguel wird es auch ohne deine Hilfe schaffen«, sagte Juan genervt.
Miguel warf einen kleinen Sandanker und sprang ebenfalls ins Wasser. Da Jana noch nie mit einem langen, mit Wasser vollgesogenen Rock durchs Meer gewatet war, stolperte sie und stützte sich mit beiden Händen im Wasser ab. Was nicht mehr viel nützte, denn nun waren alle ihre Klamotten durchnässt.
»Pass doch auf!«, schnauzte Juan sie an, drehte sich wieder nach vorn und stapfte kopfschüttelnd weiter.
Miguel packte sie am Oberarm, zog sie hoch und mit sich. »Wo sind wir hier?«, fragte sie Miguel leise.
»Isla Cubagua.«
»Und was wollen wir hier?«
»Wirst du gleich erfahren.«
Die Insel wirkte klein und flach, der Strand war nicht besonders tief und Palmen waren nur spärlich gesät. Einige Kakteen säumten die getretenen Pfade aus rotbräunlicher Erde.
Nach etwa zehn Minuten kamen sie zu einer Art kleiner Siedlung. Dort stand eine Fischerhütte neben der anderen. Nicht viele, höchstens zwanzig. In eine von ihnen trat Juan ein. Jana hielt inne und blickte zu Miguel. Dieser nickte. Nervös betrat sie die Hütte.
»Mamá, bist du wach? Soy yo, Miguel«, sagte Miguel leise und liebevoll.
Taktvoll blieb Jana in dem Raum stehen, der Küche, Ess- und Wohnzimmer in einem zu sein schien. Juan bedeutete ihr, zu warten und ging ebenfalls in den Raum, aus dem die Stimmen kamen. Alle drei redeten leise miteinander. Dann rief Miguel sie.
Langsam ging Jana in das Schlafzimmer. Auf einer kleinen Holzpritsche lag eine Frau, die am ganzen Körper zitterte, daneben in einem zweiten Bett ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren. In einem dritten Bett ein älterer Mann, er schlief noch, schüttelte sich aber auch in Schüben.
Miguel stand auf und kam Jana entgegen. »Meine Mutter ist krank. Kannst du ihr helfen?«
»Deine Mutter ist krank?« Jana wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Sie ist schwer krank«, fügte Juan hinzu.
»Warum holt ihr denn keinen Arzt?«, fragte Jana.
»Pass mal auf, amiga ...«, Juan baute sich vor ihr auf.
Miguel hielt sofort einen Arm zwischen ihn und Jana und schob ihn damit zur Seite.
Miguel wandte sich Jana zu und sagte: »Wir haben kein Geld für einen Arzt. Derjenige, der regelmäßig auf die Insel kommt, ist uns zu teuer geworden. Deshalb gibt es keinen mehr. Wir müssten unsere Mutter aufs Festland fahren. Aber da wir nicht wissen, was unsere Mutter hat, wollten wir kein Risiko eingehen.«
»Du bist doch Ärztin, oder nicht?«, fragte Juan skeptisch.
»Ja, bin ich. Und deshalb entführt ihr mich einfach?«
Juan schubste Miguel zur Seite und drückte Jana mit seinem ganzen Körper an die Wand. Sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. »Meine Mutter liegt wahrscheinlich im Sterben. Und nicht nur sie, mein kleiner Bruder und mein Vater ebenfalls, und je länger wir jetzt mit einander Unfug quatschen, desto weniger habe ich noch von ihnen! Also, entscheide dich! Willst du uns jetzt helfen?«
Sie nickte langsam. Juan ließ sie los. Vorsichtig ging Jana zum Bett der Frau und kniete sich hin. Diese drehte langsam den Kopf und zitterte. Miguel zündete ein Windlicht an.
»Es una mujer«, flüsterte die Frau.
Jana nahm ihre Hand, doch die Kranke entzog sie ihr sofort. Verwirrt blickte Jana zu Miguel.
»Sí, pero también es doctora«, sagte er und redete beruhigend auf sie ein.
»Was ist los?«, wollte Jana wissen.
»Meine Mutter ist skeptisch, weil du eine Frau bist.«
Jana legte vorsichtig ihre Hand auf die Stirn der Mutter. Sie war heiß und schweißnass. Langsam zog Jana die Decke ein Stückchen hinunter und tastete behutsam den Bauch ab, drückte auf die Leber, dann knöpfte sie das leichte Hemdchen auf. Die Frau hielt Janas Hände mit der flachen Hand fest und sah Miguel fragend an, dann Juan.
»Mamá ... todo está bién«, sagte Miguel.
»Ich muss mir ihre Haut ansehen, um sicherzugehen, dass sie kein Dengue-Fieber hat«, sagte Jana leise.
Miguel übersetzte das und schob noch ein paar Sätze hinterher. Dann bedeutete er Juan, mit hinauszugehen. Dieser folgte.
Jana schob das Hemdchen zur Seite und die Frau ließ es geschehen, sodass Jana sich die Haut ansehen konnte. Danach fühlte sie ihren Puls. Schließlich streckte sie der Frau die Zunge heraus und zeigte darauf. Die Frau machte es ihr nach. Jana nickte und sagte: »Gracias.«
Die Mutter lächelte schwach und wurde wieder von einer Fiberwelle geschüttelt. Gerade als Jana sich umdrehte, um zur Tür zu gehen, kam Miguel herein und brachte ihre Arzttasche.
»Ich dachte, die brauchst du vielleicht.«
Sie blickte ihn an. »Wo hast du sie her?«
»Ich hab sie mitgenommen, als du noch geschlafen hast. Juan hatte sie ins Ruderboot gelegt. Habe sie eben nur vergessen.«
»Danke«, flüsterte Jana.
»Wie sieht es aus, kannst du schon etwas zum Gesundheitszustand meiner Mutter sagen?«, fragte Miguel ernst.
»Es ist sehr schwer einzukreisen. Sie hat eine Fieberart, so viel ist klar. Dengue-Fieber ist es wohl nicht, sie hat keinen Hautausschlag, und Typhus ist es wohl auch nicht, da die Zunge in Ordnung und die Milz nicht vergrößert ist. Es könnte Malaria oder Gelbfieber sein. Ich messe ihr noch mal den Blutdruck.«