Wenzel und Hilda war es nicht entgangen, daß die beiden Interesse füreinander zeigten. Außerdem war es spät. Die Oberländers mußten am nächsten Morgen wieder früh aufstehen, um die Kühe zu melken. So zogen sie sich zurück.
»Tust die Tür einfach zuziehen, Susi! Ich laß in der Küche die Lampe brennen. Der Andreas wird sie dann ausmachen. In der Kammer hab’ ich dir eine Kerze hingestellt und Streichhölzer dazugelegt. Elektrisches Licht haben wir hier auf der Alm nicht.«
Susi bedankte sich noch einmal. Wenzel erzählte noch kurz, daß dies die letzte Alm sei, die noch nicht verkabelt ist, wie er es nannte. Alle anderen Almen hatten Strom. Aber Wenzel war der Meinung, daß das nicht nötig sei. Es sei viele hundert Jahre so gegangen. Für sie beiden Alten wäre das noch so in Ordnung, bis einmal jemand anders in der nächsten Generation die Alm übernehmen würde.
Andrea wartete ab, bis die beiden sich zurückgezogen hatten. Dann sprach er Susi an:
»Ich mache immer noch einen kleinen Spaziergang bis drüben zum Wald. Jeden Abend wenn ich hier bin, gehe ich hinüber. Das ist ein Ritual seit meiner Kindheit, als ich zum ersten Mal hier war. Willst du mitkommen?«
»Ist es nicht zu dunkel dazu? Der Wald sieht jetzt schon wie eine schwarze Wand aus. Irgendwie wirkt das unheimlich.«
»Keine Sorge! Ich passe schon auf dich auf. Das ist doch Ehrensache. Die Burschen hier in den Bergen sind für die Madls verantwortlich.«
Susi zögerte. Hier auf der Bank beim Tisch vor der Almhütte war es doch auch schön. Warum wollte Andreas spazierengehen, auch wenn es nur das kleine Stück bis zum Wald war? Auf der anderen Seite war Susi gern in seiner Nähe. So entschloß sie sich mitzukommen. Andreas griff einfach nach Susis Hand, so als sei das ganz selbstverständlich. Susis Herz klopfte. Ganz neue Gefühle schlichen sich in ihr Herz, Gefühle, die sie noch niemals vorher in dieser Weise verspürt hatte. Sie fühlte sich wie verzaubert. Andreas zog sie in seien Bann.
Andreas führte sie zuerst ein Stück den Fußweg entlang, der von der Oberländer Alm am Hang entlang hinunter nach Waldkogel führte. Dann überquerten sie die Weide bis zum Waldrand. Am Waldrand lagen einige gefällte Baumstämme. Sie setzten sich.
»Schau, den Ausblick wollte ich dir zeigen. Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen hinauf auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹. Nur noch der kleine Fels mit dem Gipfelkreuz auf dem Plateau wird erleuchtet.«
»Wie wunderbar!«
Die beiden wurden ganz still. Sie sahen hinauf und warteten, bis die Dunkelheit den Berg und das Kreuz ganz verhüllten.
»Schon als Kind saß ich abends immer hier und schaute hinauf. Ich war ein einsames Kind. Das gab mir Kraft und Trost für viele Traurigkeiten in meinem Kinderherz.«
»Bist du heute auch noch einsam?« rutschte es Susi heraus.
Sie erschrak selbst über ihre Worte. Konnte man sie doch auch mißverstehen. Unbewußt hielt sie sich die Hand über die Lippen, so als wollte sie verhindern, daß ihr weitere Gedanken entschlüpften.
Andreas lachte. Er verstand ihre Verlegenheit.
»Das muß dir nicht peinlich sein. Einsam?« wiederholte er. »Nein, ich bin nicht einsam. Ich bin allein. Allein sein und Einsamkeit, das ist etwas ganz Verschiedenes. Einsamkeit kann einen Menschen auch ereilen, wenn er nicht mehr alleine ist. Damit meine ich, wenn er eine Freundin hat oder sogar eine Braut oder auch Frau. Zweisamkeit schützt nicht vor Einsamkeit.«
Susi war von dieser Antwort überrascht.
»So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Doch das ist wohl richtig.«
»Ja! Bedauernswert ist es in jedem Fall. Niemand sollte in einer Zweisamkeit einsam sein.«
»Ich denke, daß die Liebe in einer Zweisamkeit vor Einsamkeit bewahren sollte.«
»Kennst du diese Liebe?« fragte Andreas unvermittelt.
Susi mußte lächeln.
»Willst du wissen, ob ich einen Freund habe? Du bist schnell, Andreas! Ist das deine Art, das andere Geschlecht anzumachen?«
»Ist es dir zu schnell?«
»Zumindest bin ich überrascht. Wir kennen uns kaum mehr als eine Stunde und du fragst mich so etwas Persönliches. Da darf ich mich doch ein wenig wundern oder?«
»Ich weiß gern, woran ich bin. Sag, wie lange willst du auf der Berghütte bleiben?«
»Ich habe meinen ganzen Jahresurlaub genommen. Alten Urlaub habe ich auch noch. Kurz, ich habe Zeit, viel Zeit. Ich komme in die Berge, um der Hektik zu entfliehen. Ich wollte etwas anderes sehen.«
»Tapetenwechsel?«
»Ja! Totaler Tapetenwechsel! Auch was die Kleidung angeht. Die vielen Tüten hast du ja gesehen.«
»Tracht steht dir gut oder besser gesagt, Landhausmode. Glaube mir, ich kann das beurteilen.«
»Stimmt, die Oberländers haben es angedeutet, daß du auch etwas mit Kleidern zu tun hast. Ich muß sagen, ich hätte mir nie vorstellen können, wie wohl ich mich darin fühle. Es ist ein ganz neues Gefühl.«
»Ich verstehe dich! Ich kann es auch immer kaum erwarten, in meine Lederhosen zu schlüpfen. Es kommt mir vor, als lege ich einen Panzer ab, wenn ich aus dem Anzug schlüpfe. Damit lege ich auch Zwänge ab. Ich fühle mich frei und heiter. Einfach fröhlich!«
»Auch ein wenig übermütig? Ich meine, weil du so losstürmst? Deine Fragen…«
»Ja, es mag dir übermütig erscheinen. Doch ich bin so. Ich weiß gerne, woran ich bin. Nur wenn man die Fakten kennt, kann man planen.« Er lächelte verschmitzt. »Susi, es gibt auch den anderen Weg. Damit meine ich, wie das in der Regel so abläuft, wenn ein Mann oder Bursche, wie man hier in den Bergen sagt, an einer Frau, einem Madl, Interesse hat.«
»So, und wie?« forderte Susi ihn heraus.
»Ich verwende meinen ganzen Urlaub, um herauszufinden, ob du in festen Händen bist. Doch das wäre reine Zeitverschwendung«, betonte er.
Um dem Gespräch ein Ende zu machen, gab ihm Susi Auskunft.
»Ich bin solo – im Augenblick! Ich hatte niemals eine feste Beziehung, von der man sagen könnte, sie tauge für ein langes, gemeinsames Leben. Der Richtige war mir eben nie begegnet«, lachte Susi. »Vielleicht sind auch meine Ansprüche zu hoch. Das sagt jedenfalls meine Freundin Jasmin.«
»Ich denke auch so! Lieber keine als die Falsche! Das ist auch meine feste Überzeugung«, sagte Andreas mit Nachdruck.
»Ich schließe daraus, daß du auch noch solo bist.«
»Ja! Ich habe vielleicht in meiner Kindheit nicht die richtigen Vorbilder gehabt. Jedenfalls strebe ich nach dem Ideal.«
»Dann wünsche ich dir, daß du eine findest, die deinem Ideal entspricht.«
»Danke! Ich arbeite daran!«
Susi gefiel das Gespräch nicht. Viel lieber hätte sie nur still die Sterne betrachtet. Sie fühlte sich so wohl in seiner Nähe. Wozu all diese Worte? Wozu diese theoretischen Überlegungen? Er gefällt mir! Wenn ich ihm auch gefalle, warum sagt er es nicht einfach? Damit könnte ich etwas anfangen. Aber so?
Susi spürte, wie es zwischen ihnen knisterte. Am Nachthimmel standen die Sterne. Der Mond leuchtete silbern. Ein warmer Wind wehte sanft und streichelte die Haut.
Wie im Märchen, dachte Susi. Wenn er mich jetzt in die Arme nähme und küßte, würde ich es zulassen. Wie schön wäre das, sich einfach in seine Arme fallen lassen und alles vergessen!
Doch es geschah nichts. Andreas sagte auch nichts mehr. Starr saßen sie nebeneinander und schwiegen.
Susi