Mit ihren Eltern sprach das Mädchen allerdings nicht über diese Gedanken. Sie sollten nicht gekränkt werden und womöglich den Eindruck haben, dass sie lieber ein Dauerkind von Sophienlust als ihre Tochter wäre. Das war schließlich nicht der Fall. Paulina liebte ihre Eltern und hätte sich überhaupt nicht vorstellen können, irgendwo anders leben zu sollen als bei ihnen. Sie waren alle zusammen schließlich eine glückliche Familie, und seit Rembrandt zu ihnen gekommen war sogar noch eine Spur glücklicher als zuvor. Spontan musste Paulina an ihre Klassenkameradin und Freundin Rebecca denken, deren Eltern seit über zwei Jahren geschieden waren. Nun lebte Rebecca bei ihrer Mutter, verbrachte aber die Wochenenden oft bei ihrem Vater, der nun im Nachbarort wohnte. Rebecca liebte sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater und litt darunter, dass die Familie nun gewissermaßen zerrissen war und dass es keine gemeinsamen Unternehmungen mehr gab. Nein, so hätte Paulina nicht leben wollen. Sie war froh darüber, dass sich ihre Eltern gut verstanden und gar nicht daran dachten, sich möglicherweise irgendwann einmal scheiden zu lassen.
*
Bereits seit einer Stunde hatte Carola Rennert immer wieder nach ihren Besuchern Ausschau gehalten. Als sie dann den Wagen sah, den Ina ihr beschrieben hatte und der jetzt die Auffahrt entlangrollte, verließ sie sofort die Wohnung und eilte nach draußen. Ihr Mann Wolfgang folgte ihr, und auch die Zwillinge Andreas und Alexandra kamen neugierig mit. Vor der Freitreppe hatten sich schon zahlreiche Kinder versammelt, die die Besucher ebenfalls begrüßen wollten. So blieb es nicht aus, dass Ina, Carsten und Paulina viele Hände schütteln mussten. Durch den überaus freundlichen Empfang kamen sie sich vor wie Familienmitglieder, die nach einer langen Weltreise nach Hause zurückgekehrt waren.
»Ich bin jetzt ein bisschen verunsichert«, gestand Carsten Buchmacher und schaute Carola und Wolfgang verlegen an. »Haben wir damals eigentlich Du oder Sie zueinander gesagt? Ich erinnere mich nicht mehr so genau.«
»Aber ich«, erwiderte Wolfgang. »Wir haben uns geduzt. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich es euch spätestens jetzt angeboten. Aber nun kommt erst einmal herein. Carola hat mehrere Apfelkuchen gebacken. Einer ist für uns, die anderen hat sie für die Kinder reserviert. Magda, die Köchin, deckt gerade den Tisch für die Rasselbande.
Während ihre Eltern mit Carola, Wolfgang und den Zwillingen im Anbau verschwanden, zog Paulina es vor, mit den Kindern in den großen Speiseraum zu gehen, in dem es bereits köstlich nach Apfelkuchen duftete.
»Darf Rembrandt eigentlich mit in den Speiseraum?«, erkundigte Paulina sich. Es gibt viele Restaurants, in denen Hunde keinen Zutritt haben. Vielleicht ist das hier in eurem Speiseraum auch so.«
»Nein, Rembrandt kann dich ruhig begleiten«, erwiderte Nick. »Unsere Hunde bleiben normalerweise immer draußen. Aber das tun sie, weil sie es selbst so wollen. Wir sehen das hier nicht so eng, und es hat auch noch nie Probleme gegeben.«
»Das stimmt«, bestätigte die sieben Jahre alte Heidi. »Aber einmal hat ein Kind einen Hund angesteckt. Kurz nach Ostern hatte Pünktchen einen Schnupfen. Zuerst hat sie das gar nicht so richtig gemerkt und draußen mit Anglos gespielt. Einen Tag später lag Pünktchen mit Schnupfen und Fieber im Bett, und am nächsten Tag hat Anglos dann auch angefangen zu niesen. Er konnte gar nicht mehr richtig riechen, und es hat ein paar Tage gedauert, bis er wieder gesund war. Pünktchen hatte ihn angesteckt. Aber das hat sie nicht mit Absicht gemacht. Es ist einfach so passiert.«
Paulina schüttelte den Kopf. »Natürlich ist das keine Absicht gewesen. Niemand will einen Hund mit Schnupfen anstecken. Aber manchmal kann es ganz lustig sein, wenn ein Hund niest.«
»Ehrlich gesagt fanden wir den niesenden Anglos gar nicht komisch«, ließ Martin sich vernehmen. Er tat uns einfach nur sehr leid. Ich verstehe dich nicht. Du bist doch ein nettes und tierliebes Mädchen. Wieso findest du es lustig, wenn ein Hund niesen muss?«
»Natürlich finde ich es nicht schön, wenn ein Hund krank ist«, erklärte Paulina. »Aber wenn er niest, kann es trotzdem ulkig sein. Passt mal auf.« Das Mädchen wandte sich zu Rembrandt um, schaute ihn aufmerksam an und streckte beide Zeigefinger in seine Richtung. »Rembrandt, hatschi«, sagte sie, und sofort begann der Labrador mehrfach kräftig zu niesen. Dabei wedelte er vergnügt mit dem Schwanz, was der beste Beweis dafür war, dass er sich keinen quälenden Schnupfen zugezogen hatte.
Die Kinder beobachteten die Szene erst ungläubig, dann lachten sie, während Paulina ihren Hund lobte und ihm einen kleinen Leckerbissen als Belohnung zusteckte.
»Du hast recht«, bestätigte Martin. »So macht ein niesender Hund wirklich Spaß. Hast du deinem Rembrandt diesen Trick selbst beigebracht?«
»Natürlich, aber das ist nicht der einzige Trick. Rembrandt lernt sehr schnell und kennt noch eine ganze Menge anderer Tricks. Die kann er euch in den nächsten Tagen alle zeigen. Wir sind ja noch eine ganze Weile hier.«
Wenig später hatten sich die Kinder um den Tisch versammelt und ließen sich den Apfelkuchen schmecken. Denise und Tante Ma, wie Else Rennert genannt wurde, hatten sich ebenso zu ihnen gesellt wie Schwester Regine.
Es war eine fröhliche Runde, die da saß, und Paulina fühlte sich in keiner Weise fremd. Die Kinder gaben ihr das Gefühl, von der ersten Minute an zu ihnen zu gehören. Auch Rembrandt schien mit der für ihn ungewohnten Umgebung keine Probleme zu haben. Zufrieden hatte er sich auf einem hochflorigen kleinen Teppich an einem der Fenster zusammengerollt und döste vor sich hin.
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Mit großem Interesse hatte Ina sich die Bilder angeschaut, die Carola in den letzten Monaten erstellt hatte und die jetzt in ihrem Atelier standen.
»Dieser Sonnenaufgang über der alten Mühle gefällt mir ganz besonders«, stellte Ina fest. »Die Farben wirken so bizarr und trotzdem natürlich. Würdest du mir dieses Gemälde für meine Galerie überlassen? Ich möchte es gerne ausstellen, und es wird sich mit Sicherheit schon bald einen Liebhaber finden.«
Carola war damit einverstanden, dass Ina dieses Bild mit nach Frankfurt nahm. Natürlich hätte sie es auch selbst verkaufen können, aber durch die Ausstellung in einer Galerie würde es mit Sicherheit einen höheren Preis erzielen.
Während die beiden Frauen mit den Bildern beschäftigt waren, unterhielten sich Wolfgang und Carsten über ihre Arbeit. So erfuhr Wolfgang, dass es sich bei Carsten nicht um irgendeinen Restaurator handelte. Er war ein international gefragter Fachmann, den man zu Rate zog, wenn es Probleme mit beschädigten Bildern gab. Selbst Museen aus Italien, Spanien und Frankreich hatten ihn schon um Hilfe gebeten, und Carsten hatte bis jetzt immer eine Lösung gefunden, um die Gemälde optisch wieder in ihren Urzustand zu versetzen. Wolfgang bewunderte diese Fähigkeit.
»Mir fehlt dazu leider jegliches Talent«, gab er zu. »Ich würde wahrscheinlich auch sehr schnell die Geduld verlieren, wenn nicht alles auf Anhieb so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Carsten zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Du bist doch Musiklehrer und gibst außerdem noch Zeichenunterricht. Ich habe dich vor drei Jahren beobachten können, wie du mit den Kindern arbeitest. Dabei ist mir aufgefallen, dass du eine Engelsgeduld aufbringst.«
»Ja, aber dabei handelt es sich um Kinder und nicht um Gegenstände, die ich in Ordnung bringen muss. Mit Kindern Geduld zu haben, ist leicht. Man bemerkt jeden kleinen Fortschritt, den sie durch den Unterricht machen, und freut sich mit ihnen zusammen darüber. Da lohnt es sich, Geduld aufzubringen. Aber hast du jemals erlebt, dass sich ein restauriertes Gemälde mit dir gemeinsam darüber gefreut hätte, dass es jetzt wieder gut aussieht?«
»Nun, auch ein Gemälde kann durchaus wieder strahlen, vor allem wenn Verschmutzungen oder Beschädigungen entfernt wurden«, antwortete Carsten lachend. »Und auch die strahlenden Augen der Eigentümer, wenn sie ihre Kunstschätze wieder in den Händen halten, ist für mich immer eine große Freude und Motivation für meine Arbeit.«
Die beiden Männer unterhielten sich noch eine ganze Weile über ihre Arbeit und verstanden sich prächtig. Als Carola und Ina sich später zu ihnen gesellten, wurde es ein gemütlicher