„Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“, fragte Heidi wieder.
„Die haben Namen“, erwiderte dieser, „und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn erkenne, so sage ich dir, wie er heißt.“
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau, und der Großvater sagte wohlgefällig: „Recht so, den kenn’ ich, der heißt Falkniß. Hast du noch einen gesehen?“
Heidi beschrieb den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee in Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden und auf einmal ganz bleich und erloschen war.
„Den erkenn’ ich auch“, sagte der Großvater, „das ist die Scesaplana.“
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage und besonders von dem Feuer am Abend, und der Großvater sollte auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon gewusst.
„Siehst du“, erklärte der Großvater, „das macht die Sonne: wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.“
Das gefiel dem Heidi, und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag komme, da es hinauf könnte auf die Weide.
Bei der Großmutter
Am anderen Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter mit den Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm gar nie etwas fehlte. Als es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing, sagte der Großvater: „Heut’ bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen.“
Wenn das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus. Einmal wusste er vor Langeweile nun gar nichts mehr anzufangen, wenn das Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Geißen so störrisch an diesen Tagen, dass er die doppelte Mühe mit ihnen hatte. Sie waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war. Heidi wurde niemals unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Auch das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters waren sehr unterhaltend für Heidi. Und traf es sich, dass er gerade die schönen, runden Geißkäschen zubereitete, so war es ein ganz besonderes Vergnügen, dieser merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor allem anziehend war für Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben.
Dann wurde es kalt, und der Peter, hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen heraufkam. Dann auf einmal fiel über Nacht tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm weiß. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute ganz verwundert durch das klöne Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen. Am anderen Tage ging der Großvater hinaus — denn nun schneite es nicht mehr — und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große Schneehaufen aufeinander. Nun waren die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, da polterte auf einmal etwas heran und schlug immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren. Eigentlich war der ganze Peter von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so durchkämpfen müssen, dass große Stücke an ihm hängengeblieben und auf ihm festgefroren waren in der scharfen Kälte. Aber er hatte nicht nachgegeben, heute wollte er zum Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
„Guten Abend“, sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah wie möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie ein Wasserfall.
„Nun, General, wie steht’s?“, fragte jetzt der Großvater. „Nun bist du ohne Armee und musst am Griffel nagen.“
„Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?“, fragte Heidi sogleich.
„Im Winter muss er in die Schule gehen“, erklärte der Großvater; „da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, und da hilft’s ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt — nicht wahr, General?“
„Ja, ’s ist wahr“, bestätigte Peter.
Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden, und es hatte sehr viele Fragen über die Schule und alles, was dort geschah und zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen musste, so konnte er derweilen schön trocknen. Es war Immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er’s besonders schwer, denn kaum hatte er eine Antwort zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten. Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
„So, General, nun bist du im Feuer gewesen und brauchst Stärkung!“ Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor. Der Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. Als er nun „Gute Nacht“ und „Dank Euch Gott“ gesagt hatte und schon unter der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: „Am Sonntag komm’ ich wieder, heut über acht Tag’, und du solltest auch einmal zur Großmutter kommen, hat sie gesagt.“
Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen sollte. Und gleich am folgenden Morgen war Heidis erstes Wort: „Großvater, jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.“
„Es hat zu viel Schnee“, erwiderte der Großvater abwehrend.
Am vierten Tage, als draußen die ganze Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, stieg der Öhi auf den Heuboden hinauf, brachte die dicke Decke herunter und sagte: „So komm!“
In großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus.
Der Großvater war in den Schuppen gegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten Er setzte sich hin, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um und um in die Decke ein und drückte es fest mit dem linken Arm an sich. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Der Schlitten schoss davon, dass das Heidi meinte, es fliege wie ein Vogel. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte: „So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm wieder heraus, und mach’ dich auf den Weg!“
Als Heidi in das Stüblein trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran saß eine Frau und flickte Peters Wams. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradeaus auf das Spinnrad zu und sagte: „Guten Tag, Großmutter.“
Die Großmutter hob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie sie erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: „Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?“