»Es wäre kein Wunder, Lise, wenn ich infolge deiner launischen Einfälle auch hysterisch würde! Übrigens ist sie sehr krank, Alexej Fjodorowitsch. Sie ist die ganze Nacht sehr krank gewesen, hat gefiebert und gestöhnt! Nur mit Mühe und Not habe ich den Morgen und den Doktor Herzenstube abwarten können. Er sagt, er könne das nicht verstehen, man müsse den weiteren Verlauf abwarten. Dieser Doktor Herzenstube kommt immer und sagt, er könne das nicht verstehen ... Sowie Sie sich dem Haus näherten, schrie sie auf, bekam einen Anfall und verlangte hierher, in ihr früheres Zimmer gebracht zu werden ...«
»Mama, ich habe überhaupt nicht gewußt, daß er kommt! Ich wollte nicht seinetwegen in dieses Zimmer gefahren werden.«
»Das ist schon wieder eine Unwahrheit, Lise! Julija lief zu dir, um dir zu sagen, daß Alexej Fjodorowitsch kommt. Sie hat auf deinen Befehl Wache gestanden.«
»Mama, liebes Täubchen, das ist furchtbar wenig geistreich von Ihnen! Wenn Sie es aber wiedergutmachen und gleich etwas sehr Verständiges sagen wollen, liebe Mama, so sagen Sie doch dem geehrten Herrn Alexej Fjodorowitsch, er habe schon dadurch einen Mangel an Feingefühl bewiesen, daß er sich nach allem, was gestern geschehen sei, entschlossen habe, heute zu uns zu kommen – wo er hier doch nur ausgelacht wird.«
»Lise, du erlaubst dir zu viel, und ich versichere dir, daß ich zu strengen Maßnahmen greifen werde! Wer lacht denn hier über ihn? Ich freue mich so, daß er gekommen ist! Ich brauche ihn, er ist mir ganz unentbehrlich. Ach, Alexej Fjodorowitsch, ich bin sehr unglücklich!«
»Was betrübt Sie denn so, Mama, mein Täubchen?«
»Ach, deine Launen, Lise, deine Unbeständigkeit, deine Krankheit, diese schreckliche Fiebernacht, dieser schreckliche Doktor Herzenstube, besonders, daß er ewig, ewig und ewig herkommt! Und schließlich alles, alles ... Und zuletzt sogar dieses Wunder! Oh, wie mich dieses Wunder ergriffen und erschüttert hat, lieber Alexej Fjodorowitsch! Und dort im Salon jetzt diese Tragödie, die ich nicht ertragen kann, nein, ich kann es nicht, ich sage Ihnen von vornherein, daß ich es nicht kann. Vielleicht ist es übrigens eine Komödie und keine Tragödie? Sagen Sie, wird der Starez Sossima noch bis morgen leben, ja? Wird er so lange leben? O mein Gott! Was geschieht nur mit mir? Ich mache alle Augenblicke die Augen zu und sehe, daß alles Unsinn ist, alles Unsinn.«
»Ich möchte Sie sehr bitten«, unterbrach Aljoscha sie plötzlich, »mir ein reines Läppchen zu geben, damit ich meinen Finger verbinden kann. Ich habe ihn mir verletzt, und er tut mir furchtbar weh.«
Aljoscha wickelte seinen zerbissenen Finger aus dem Tuch, es war ganz voll Blut. Frau Chochlakowa schrie auf und machte die Augen zu.
»O Gott, was für eine Wunde, das ist ja entsetzlich!«
Aber Lisa hatte kaum durch den Spalt Aljoschas Finger gesehen, als sie sogleich die Tür sperrangelweit öffnete.
»Kommen Sie herein, kommen Sie zu mir herein!« rief sie gebieterisch. »Jetzt wollen wir die Dummheiten beiseite lassen! O Gott, warum haben Sie denn so lange dagestanden und geschwiegen? Er hätte verbluten können, Mama! Wo haben Sie das nur her? Wie haben Sie das angestellt? Vor allen Dingen Wasser, Wasser! Sie müssen die Wunde waschen, den Finger einfach in kaltes Wasser stecken, damit der Schmerz aufhört, und ihn immer hineinhalten, immer hineinhalten ... Nur schnell, schnell Wasser, Mama! Aber schnell!« rief sie zum Schluß nervös. Sie befand sich in höchster Angst. Aljoschas Wunde hatte ihr einen Schreck eingejagt.
»Soll ich nicht Doktor Herzenstube rufen lassen?« rief Frau Chochlakowa.
»Mama, Sie töten mich! Ihr Herzenstube wird kommen und sagen, er könne das gar nicht verstehen! Wasser, Wasser! Mama, um Gottes willen, gehen Sie selbst und treiben Sie Julija zur Eile an, die gewiß wieder irgendwo hängengeblieben ist und nie schnell kommen kann! Aber schnell, Mama, sonst ist es mein Tod!«
»Aber das ist doch nur eine Bagatelle!« rief Aljoscha, ganz erschrocken über den Schreck der beiden.
Julija kam mit Wasser. Aljoscha steckte den Finger ins Wasser.
»Mama, um Gottes willen, bringen Sie Scharpie! Und dieses scharfe, trübe Wasser für Schnittwunden, wie heißt es doch gleich? Wir haben welches, wir haben welches, wir haben welches ... Mama, Sie wissen selbst, wo die Flasche steht, in Ihrer Schlafstube, in dem Schränkchen rechts, da ist eine große Flasche und auch Scharpie ...«
»Sofort werde ich alles holen, Lise. Schrei nur nicht so und reg dich nicht auf! Du siehst doch, wie standhaft Alexej Fjodorowitsch sein Unglück erträgt. Wie haben Sie sich nur so furchtbar verwunden können, Alexej Fjodorowitsch?«
Frau Chochlakowa ging eilig hinaus. Darauf hatte Lisa nur gewartet.
»Vor allen Dingen beantworten Sie mir schnell eine Frage«, begann sie hastig. »Wie haben Sie es fertiggebracht, sich so zu verwunden? Doch dann will ich mit Ihnen von etwas ganz anderem reden. Nun?«
Aljoscha fühlte instinktiv, daß Lisa die Zeit bis zur Rückkehr ihrer Mama kostbar war, und erzählte ihr daher rasch, mit vielen Auslassungen und Kürzungen, aber doch genau von seiner seltsamen Begegnung mit den Schulknaben. Als Lisa alles gehört hatte, schlug sie die Hände zusammen.
»Aber wie konnten Sie nur! Wie konnten Sie sich nur, und noch dazu in dieser Kleidung, mit Schulbuben abgeben!« rief sie zornig, als ob sie irgendein Recht über ihn hätte. »Danach muß man ja glauben, daß Sie selbst noch ein Junge sind! Der kleinste Junge, den es überhaupt gibt! Stellen Sie aber unter allen Umständen Nachforschungen nach diesem abscheulichen Jungen an, und berichten Sie mir alles, da steckt irgendein Geheimnis dahinter! Jetzt das andere. Doch vorher eine Frage. Sind Sie, Alexej Fjodorowitsch, trotz Ihrer Schmerzen imstande, über ganz törichte Dinge zu reden? Vernünftig zu reden?«
»Vollkommen. Und ich fühle jetzt auch gar keinen besonderen Schmerz.«
»Das kommt, weil Ihr Finger im Wasser ist. Das Wasser muß gleich gewechselt werden, es wird sofort warm. Julija, hol schleunigst ein Stück Eis aus dem Keller. Und noch einen anderen Napf mit Wasser! So, jetzt ist sie weg, und ich komme zur Sache. Seien Sie so freundlich, lieber Alexej Fjodorowitsch, und geben Sie mir augenblicklich meinen Brief zurück, den ich Ihnen gestern geschickt habe. Augenblicklich, denn Mama kann gleich wiederkommen, und ich will nicht ...«
»Ich habe den Brief nicht bei mir.«
»Das ist nicht wahr. Sie haben ihn bei sich. Ich habe übrigens gewußt, daß Sie so antworten würden. Sie haben ihn in der Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz die ganze Nacht bereut. Geben Sie mir den Brief sofort zurück! Geben Sie ihn her!«
»Ich habe ihn dort gelassen.«
»Aber Sie müssen mich ja wegen meines Briefes mit diesem dummen Scherz für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz kleines Mädchen! Ich bitte Sie für den dummen Scherz um Verzeihung. Den Brief aber bringen Sie mir, bitte, unter allen Umständen zurück, wenn Sie ihn wirklich nicht bei sich haben. Bringen Sie ihn noch heute, unter allen Umständen, unter allen Umständen!«
»Heute ist es ganz unmöglich. Ich gehe ins Kloster und werde zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht zu Ihnen kommen können, weil der Starez Sossima ...«
»Vier Tage, so ein Unsinn! Sagen Sie, haben Sie sehr über mich gelacht?«
»Ich habe nicht ein bißchen gelacht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich alles für wahr hielt.«
»Sie beleidigen mich.«
»Durchaus nicht. Als ich den Brief gelesen hatte, sagte ich mir sogleich, daß alles so geschehen wird. Sobald der Starez Sossima gestorben ist, muß ich sofort das Kloster verlassen. Darauf werde ich das Gymnasium absolvieren und das Examen machen. Und wenn der gesetzliche Termin gekommen ist, werden wir heiraten. Ich werde Sie lieben. Obgleich ich noch keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, habe ich mir doch gesagt, eine bessere Frau als Sie werde ich nicht finden. Und der Starez hat mir befohlen zu heiraten ...«
»Aber ich bin ein Krüppel und werde