Tertinius kam wieder aus der Kirche. »Hast du genug gesehen?«, fragte er leise. Die beiden Soldaten nahmen Aelia in die Mitte und schoben sie zurück zum Wagen, der auf dem Hof auf sie wartete.
Aelia blickte sich nach Verina um, die immer noch ahnungslos an der Kirchentür saß, als Tertinius ihren Arm nahm und sie in den Wagen schob, in dem Wala auf sie wartete.
Die Tür schlug zu, der Wagen rollte vom Hof. Aelia wagte es nicht, noch einen Blick hinauszuwerfen, aus Angst, in Tränen auszubrechen. Erst als sie ein Stück gefahren waren, gelang es ihr, den Kloß im Hals herunterzuschlucken.
»Deiner Freundin geht es gut«, erklang die Stimme des Präfekten aus dem Dunkel des Wagens. »Das wird so bleiben, solange du tust, was ich dir sage. Hast du verstanden?«
Aelia nickte. Es gelang ihr kaum, seiner Stimme zuzuhören, die von Barbarenvölkern redete, die das Reich umzingelt hätten, von Bündnisverträgen, die das Pergament nicht wert seien, auf dem sie stünden, von der Notwendigkeit, die Feinde zu beobachten.
»… im Norden gibt es einen fränkischen König, der …« Der Präfekt stockte kurz und fuhr dann fort: »Wala wird dich an seinen Hof bringen, er kennt den Weg. Du wirst dort bleiben und meinem Mittelsmann alles von ihm berichten, bis du einen anderen Befehl erhältst.«
Seine Stimme klang fremd. Die Räder rumpelten über die Steine der Straße. Aelia hatte plötzlich das Bedürfnis, das Leder in der Tür wegzureißen, um Licht und Luft hereinzulassen, aber sie wagte es nicht.
»Ich soll für dich spionieren?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Wenn du es so nennen willst, ja.«
»Aber …«
»Kein Aber. Wala wird in deiner Nähe bleiben, bis du sicher am Königshof bist.«
Aelia schluckte, um ihre aufsteigende Angst niederzukämpfen. »Wie lange?«
»Bis du einen anderen Befehl erhältst.«
»Wie wird das gehen?«
»Wenn du am Königshof angekommen bist, wird Wala dir unseren Mann schicken. Er ist immer in deiner Nähe. Ihm wirst du alles sagen, was du herausgefunden hast, und er wird es weitergeben. Auf demselben Weg wirst du auch Befehle von mir erhalten.«
»Warum bleibt Wala nicht dort?«, fragte Aelia. Sie hörte Tertinius in der Dunkelheit leise seufzen. »Vertrau mir, ich mache das nicht zum ersten Mal. Ich sage dir genau so viel, wie du für deinen Auftrag wissen musst. Zuviel Wissen schadet nur.«
»Du meinst, je weniger ich weiß, desto weniger kann ich verraten, wenn sie mich entdecken.«
Tertinius schwieg eine Weile. »Sie werden dich nicht entdecken, wenn du geschickt genug bist. Wenn du allerdings fliehst oder dich auf andere Weise deinem Auftrag zu entziehen versuchst, wird deine Freundin sterben. Wenn du mir alles berichtest und tust, was ich dir sage, werde ich euch beiden die Freiheit schenken.«
Aelia nickte. Sie merkte, wie sie zu zittern begann.
Tertinius beugte sich nach vorn. »Nun wiederhole den Satz«, forderte er sie auf. Aelia erinnerte sich an jene Worte, die sie mit Wala mehrfach geübt hatte.
»Caelum, non animum mutant qui trans mare currunt.«
Der Präfekt nickte zufrieden. »Unser Mann wird sich dir mit diesem Satz zu erkennen geben. Außerdem – falls etwas geschehen sollte – muss sich jeder, der behauptet, einer meiner Spione zu sein, dir diesen Satz sagen, sonst verrätst du ihm gar nichts. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Gut. Wala wird dir alles Weitere erklären. Ihr werdet über die Flüsse reisen, das ist zwar der weitere und längere Weg, aber er ist sicherer. Ich möchte kein Risiko eingehen.«
Aelia nickte, aber Tertiniusʼ Worte beruhigten sie nicht – im Gegenteil.
Der Wagen hielt und sie stiegen aus. Im grauen Licht des Morgens floss die Mosella an ihnen vorbei. In ihrem aufgewühlten Wasser schaukelten Fischerboote, und mitten zwischen ihnen, am hölzernen Anlegesteg, lag ein Handelsschiff. Galla Placidia prangte in roten Lettern auf seinem bauchigen Rumpf. Aelia musste daran denken, dass es auch ein Schiff gewesen war, das ihren Vater mitgenommen hatte. Ihre Hand glitt in ihr Gewand und fühlte die Erde darin. Er hat vergessen, Erde mitzunehmen, dachte sie. Deshalb ist er nie zurückgekommen.
Teil II
Dispargum
Kapitel 8
Erst auf dem Schiff erfuhr Aelia mehr über das Ziel ihrer Reise: sie würden erst nach Colonia fahren und von dort weiter in den Norden. Wohin genau, verriet Wala ihr nicht.
Die Reise verlief ruhig. Die Mosella führte von der Schneeschmelze noch viel Wasser und trug sie flussabwärts in zahlreichen Windungen bis nach Confluentes, wo sie in den Rhenus mündete. Dort thronte auf einem Berg ein altes Kastell, das einst zur römischen Grenzbefestigung gehört hatte, aber sie legten dort nicht an, sondern fuhren weiter den Rhenus hinunter Richtung Norden.
Aelia, die noch nie aus Treveris hinausgekommen war, spähte immer wieder misstrauisch zum Ufer hinüber, wo Germanien lag, das Land jenseits der Reichsgrenze. Dort siedelten die Franken, erklärte ihr Wala, dahinter die Thüringer, nördlich von ihnen die Sachsen.
»Warum gibt es hier keine Grenztruppen mehr?«, fragte Aelia und betrachtete das dicht bewaldete Ufer des Rhenus mit einem kritischen Blick. »Sie wurden vor Jahren abgezogen und in den Süden verlegt, als Rom gegen die Goten verteidigt werden musste«, erklärte ihr Wala. »Dafür brauchte man alle Truppen.«
»Und so konnten die Barbaren ungehindert über den Rhenus ins Reich eindringen«, erwiderte Aelia, der plötzlich klar wurde, dass man ihre Provinz zugunsten Roms aufgegeben hatte. Doch Wala beruhigte sie. Die Stämme seien größtenteils friedlich. Selbst wenn sie Überfälle planen würden, würden römische Spione die noch verbliebenen kleinen Grenztrupps warnen. Diese würden die Barbaren notfalls aufhalten, bis das Heer käme. »Es wird uns nichts geschehen«, versicherte er, aber beruhigt war Aelia erst, als die Galla Placidia am frühen Abend Colonia erreichte. Die Stadt lag direkt am Rhenus, umgeben von einer Mauer mit Türmen und Toren, eingebettet in die Felder eines flachen Landes. Ein Gewirr von Dächern ragte hinter der Stadtmauer auf. Auf dem anderen, bewaldeten Ufer lag das einstige römische Kastell Divitia, in dem nun ein fränkischer Stammesführer residierte.
Die Stadt sei vor einigen Jahren unter die Herrschaft der Franken geraten, erklärte ihr Wala. Sie hätten die missliche Lage der Stadt nach Abzug der römischen Grenztruppen ausgenutzt und unter ihren »Schutz« genommen. Ihr Beherrscher sei der fränkische König Chlodwig Medelphus, Anführer aller fränkischen Stämme, die am Rhenus siedelten. Eine Brücke führte von seiner Festung zur Stadt. Nicht weit davon lag der Hafen.
»Beeilt euch, die Stadttore schließen bei Sonnenuntergang«, sagte der Schiffsherr, nachdem er die Galla Placidia sicher an die Kaimauer gesteuert hatte. Als Wala ihn großzügig bezahlte, gab er ihnen noch einige Ratschläge.
»Wenn ihr eine Herberge sucht, geht am besten zum Alten Zeno im Osten der Stadt. Der Wirt ist Römer und stellt keine neugierigen Fragen. Geht nur einfach die Via Germania hinauf bis zur Stadtmauer, dort findet ihr ihn.«
»Danke, aber wir wollen nur meine Tochter besuchen«, sagte Wala.
Der Schiffsherr blickte sich kurz um und senkte seine Stimme, als er weitersprach: »Seid vorsichtig am Stadttor, die Wachen kontrollieren jeden, vor allem die Romanen. Es wäre nicht das erste Mal, dass harmlose Reisende unter einem Vorwand verhaftet werden.«
»Danke für deinen Rat, guter Mann, aber sie werden uns nichts nehmen können, das wir nicht haben«, antwortete Wala.
Der