Mit einem Lächeln auf den Lippen kam Carol wieder aus dem Geschäft. Unter der Prämisse, man müsse sich auch mal etwas gönnen, spazierte sie durch Denver Downtown, genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und die neue Stadt. Das Capitol faszinierte sie. Staunend umkreiste sie das Gebäude und stieß mit einem Mann zusammen, der genauso nach oben blickte, wie sie. Stanley, schoss es ihr durch den Kopf. Der Mann entschuldigte sich und lächelte. Aber es war nicht Stanley. Von da an wurden ihre Gedanken wieder von Stanley beherrscht. Auch wenn sie versuchte, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen, es gelang nicht. Sie dachte an sein Lächeln, sein Gesicht, seine halb langen, schweren Haare und seine Größe, wie er auf sie hinabblickte und geheimnisvoll lächelte. Sie stellte ihn sich nackt vor. Kräftig und gut gebaut. Wie es sich wohl anfühlte, wenn er auf ihr läge, seinen Mund leicht geöffnet, schwer atmend, sein Becken sich auf ihrem riebe …
Carol wurde feucht. Ihr Körper sehnte sich nach ihm. Nach allem. Sie wollte ihn unbedingt haben. Bei den Gedanken erschrak sie. Dieser Mann war nicht mehr zu haben! Er gehörte ihrer Freundin, und sie würden heiraten. Carol biss die Zähne aufeinander. Sie musste versuchen, sich damit abzufinden und nur daran denken, warum sie überhaupt in Denver war: wegen der Ausstellung von »Sandford Greene«. Morgen würde sie sich die Ausstellung ansehen und dann so schnell wie möglich nach Hause zurückfliegen. Stanley durfte in ihrer Welt nicht mehr vorkommen!
***
»Und, wie war’s?«, fragte Stanley am Abend, als sie in der Küche waren. Lässig lehnte er an der Spüle, seine langen Beine ausgestreckt, eins übers andere gelegt und schob sich den letzen Happen eines Schoko-Muffins in den Mund.
»Schön«, sagte Carol nervös. »Denver ist eine schöne Stadt.«
»Stimmt, finde ich auch.«
Beide schwiegen. Stanley guckte sie kauend an. »Und, hast du was gekauft?«
Carol nickte und lächelte, dann stockte sie und ihr Lächeln erstarb. Sollte sie etwa von ihren Dessous erzählen?
»Aha, und was hast du gekauft, wenn ich fragen darf, oder ist das zu indiskret?«
»Nein, ich meine, doch. In diesem Falle … Also, wenn du Debby wärst …« Mit rotem Kopf blickte Carol hilfesuchend auf den Boden.
»Ja?«, fragte Stanley langgezogen nach. In seiner Stimme hörte sie eine leichte Belustigung heraus.
»Ich habe Dessous gekauft«, platzte Carol heraus. »Schwarz und zartrosa, wenn du’s genau wissen willst. Mit Strapsen.«
Stanley klappte der Mund auf. Eine Weile starrte er sie nur an und ließ sich zu einem »Wow« hinreißen.
»So, nun weißt du’s. Und wie war dein Tag?«
Er taxierte sie mit einem intensiven Blick, ohne auf ihre Frage zu reagieren. Mit einem Mal schoss er nach vorne, packte ihr Gesicht mit beiden Händen und presste seine Lippen auf ihre. Weich, hart, fordernd. Carol brauchte, so schien es ihr, eine Ewigkeit, um zu registrieren, was sie mit sich geschehen ließ. Es fühlte sich so verdammt gut an. Genau das wollte sie, doch in ihrem Innersten schrie der Verstand gegen die Unvernunft an.
Grob drückte sie ihn weg. »Um Gottes Willen: NEIN!«, rief Carol mit schwachem Entsetzen. Sein Aftershave haftete an ihrer Wange, und Carol schmeckte noch die Schokoladensüße seines Mundes. Wild hämmerte ihr Herz in der Brust. Beide starrten sich an wie Ertrinkende. Vernunft und Wollust trugen einen gewaltigen Kampf aus. Der Raum war nicht mehr da, es gab nur noch Stanley für Carol. Sie spürte, wie sie ihren Kampf gegen die Vernunft verlieren würde. Ihre Brüste zogen, und in ihrem Unterleib tanzten Schmetterlinge. Noch ein paar Sekunden, und sie würde auf ihn zustürzen, um ihre Lippen noch einmal auf seine zu pressen, sein Aftershave an ihm zu riechen, seine Oberarme anzufassen, seine Wärme durch das Hemd zu spüren …
Stanley guckte zur Seite und atmete tief durch. Der Augenblick war vertan und Carol verzweifelt. Sie wollte schreien und wünschte sich ein paar Sekunden zurück. Zu spät. Lässig lehnte er sich wieder an die Spüle. Am liebsten wäre sie vor ihm auf die Knie gefallen. Doch im gleichen Augenblick schalt sie sich für ihre Stolzlosigkeit.
Endlich blickte er sie wieder an. Die Gier war gewichen, und Sachlichkeit war darin zu lesen. Er verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. »Schade, ich hätte dich gerne in deinen neuen Sachen gesehen. Und noch einmal schade, dass ich dich wahrscheinlich nie darin sehen werde.«
Doch, rief es in ihrem Kopf, ich will dir die Sachen zeigen, sofort, und du sollst jedes Stückchen Stoff langsam von meinem Körper ziehen, um mich in meiner Nacktheit in dich aufzunehmen.
»Tja, so ist das Leben«, sagte Carol stattdessen.
Er zog die Augenbrauen hoch und seufzte. »Tja dann … ich werde mich zurückziehen. Wenn du noch etwas brauchst, du weißt ja, wo du die Küche, oder zur Not auch mich, findest.«
Carol nickte, unfähig zu sprechen. In diesem Augenblick hörte sie einen Schlüssel in der Haustür.
»Ah, das ist meine bessere Hälfte. Du wirst sicher mit ihr noch ein bisschen plaudern wollen. Gute Nacht«, sagte er leichthin.
»Gute Nacht«, presste Carol hervor.
Dann platzte auch schon Deborah in die Küche. »Ach, hier seid ihr. Mann, war das ein Tag! Hallo, Schatz! Hallo, Carol-Liebes.« Sie sah frisch aus, ihre Wangen rosig, voller Schwung, Freude und Vitalität. Carol beneidete sie. Endlich hatte sich ihr Herzschlag beruhigt. Doch als Stanley sich noch einmal für die Nacht verabschiedete und Carol erneut anblickte, kam ihr Blut wieder in Wallung.
Mit Deborah über den Tag zu sprechen, dazu hatte Carol überhaupt keine Lust. Im Gegenteil, der Elan, den Deborah versprühte, stieß bei Carol nur auf Unmut. Kurz und knapp erzählte Carol von ihrer Stadtbesichtigung und versuchte, Deborah den Eindruck zu vermitteln, müde zu sein und ins Bett zu wollen.
»Du siehst ganz erschöpft aus, meine Liebe. Vielleicht solltest du ins Bett gehen, damit du morgen wieder fit bist.« Mitleidig blickte Deborah sie an.
Carol hatte es geschafft. »Vielleicht hast du recht. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, meine Liebe. Ach, ich fliege morgen übrigens nach Chile.«
Mit einem Ruck blieb Carol in der Küchentür stehen und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Nach Chile? Wieso das denn?« Plötzlich war Carol hellwach.
»Beruflich. Ich muss dort in der Filiale unserer Firma in der Personalplanung aushelfen. Ich werde in drei Tagen zurück sein.«
»Aber … Wieso ausgerechnet jetzt und das so schnell?«
»Wenn Not am Mann ist, dann kann das von einem Tag auf den anderen passieren. Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aha. Sehen wir uns denn noch? In drei Tagen fliege ich wieder nach Hause, das weißt du doch, oder?«
»Ja, das weiß ich. Aber leider kann ich keine Rücksicht darauf nehmen. Geschäft ist Geschäft.«
»Klar, das verstehe ich.« Carols einzige Angst war, mit Stanley alleine zu sein. Die Gefahr der Schwäche war einfach riesig bei ihr. Nein, sie musste standhaft bleiben. Deborah war eine ihrer besten Freundinnen. Sie durfte es sich mit ihr nicht verscherzen, nur wegen eines Mannes und einer Liebesnacht.
»Kann ich dich mit Stan alleine lassen?«, fragte Deborah, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
»Klar kannst du das!«
»Ach, das weiß ich doch. Komm her.« Deborah zog Carol in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hab eine schöne Zeit und genieß die Ausstellung. Wir sehen uns bestimmt noch. Ich denke, mein Flug wird nicht so spät gehen. Schlaf gut.«
»Danke, dir einen guten Flug und gute Nacht.«
Carol winkte, als sie die Küche verließ.
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