Ich sah Alice an. Sie war die Einzige, die außer mir diese Unterhaltung mitbekommen hatte und mit der ich mein Leid teilen konnte. Auch ihr stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben und sie suchte in meinen Augen nach Halt. In Gedanken fielen wir einander heulend um den Hals, wie zwei Kinder, deren Vater in den Krieg gezogen war. Er würde mit ihr schlafen. Kurz erinnerte ich mich an das Champagnerglas in meiner Hand und daran, es nicht im Affekt zu zerdrücken. Wieso war er so einfach einzufangen?! Wer wusste denn, ob sie überhaupt die Wahrheit gesprochen hatte? Welches Mädchen, das grundsätzlich noch Jungfrau war, nur leider einen »Unfall« gehabt hatte, würde sich in einem One-Night-Stand freiwillig »beherrschen« lassen? Okay, vermutlich wusste sie nicht, was Santiago darunter verstand. Mir reichte schon, dass ich es wusste. Was war das überhaupt für ein Unfall gewesen? War sie einem Typen auf den Schwanz gefallen? Vielleicht einem Zuhälter. Und er bestrafte sie für ihr Ungeschick, indem er sie als seine Nutte arbeiten ließ. Dabei entdeckte sie dann ihre Leidenschaft, sich von Wildfremden dominieren zu lassen?
Ich seufzte schwer und mein Hilfe suchender Blick traf sich kurz mit Amistad. Der lehnte sich gerade entspannt auf dem roten Kuschelsofa zurück und zog Cheyenne an seine Brust. Hitze stieg in mir auf. Gott, ich war eifersüchtig! Warum war es bei fremden Mädchen so viel schlimmer als bei unseren eigenen. Ich empfand nicht mal annähernd diesen Seelenschmerz, wenn er mit Jana schlief oder mit Alice, mit Natalie, egal. Vielleicht war es, weil ich wusste, irgendwann würde ein anderes Mädchen sein Herz erreichen, irgendwann würde er sich neu verlieben ... und dann würde er uns austauschen.
Amistad sieht rot
Zwei unerträglich lange Stunden später, nachdem nun auch die letzten Gäste eingetroffen waren, wurden wir alle hinauf in das Restaurant zu einem Galadinner gebeten. Und erst dort sahen wir Santiago wieder – ohne weibliche Begleitung, aber bestens gelaunt. »Arielle«, wie ich sie nannte, blieb für den restlichen Abend wie vom Ozean verschluckt. Vielleicht hatte er sie mit einem Schnellboot nach Hause geschickt oder sie durfte sich allein in der Suite erholen. Ich vermied es, jemanden nach ihr zu fragen. Hauptsache, sie war weg.
Vor dem Essen hielt Santiago eine Ansprache und begrüßte die Ehrengäste, die überwiegend an seinem Tisch versammelt waren. Er lud auch zu der im Anschluss geplanten Tropicana-Show in den großen Ballsaal. Wir Mädchen saßen an einem Tisch mit Damian, der sehr unruhig ständig auf die Uhr sah und zwischendurch zweimal aufstand, um zu telefonieren. Vielleicht hätte ich damals schon bemerken müssen, dass etwas schief lief. Damian war der Hauptorganisator der Veranstaltung und hatte sämtliche Fäden in der Hand ... vor allem aber den Zeitplan. Sein auffälliges Verhalten begründete sich zwar allein auf das verspätete Eintreffen einer einzigen Person, aber trotzdem war seine Nervosität berechtigt, denn niemand kannte Santiago so gut wie er und niemand konnte Santiagos Reaktionen so zielgenau voraussagen wie Damian. Er wusste, was passieren würde. Diese eine Person sprengte wenig später das gesamte Abendprogramm. Was Damian allerdings nicht vorhersehen konnte ... ich musste dafür büßen.
***
Die erlesene Gesellschaft der VIPs hatte sich unter Deck eingefunden und erholte sich in der Havanna Bar und im Empire Mariné von einem delikaten Dinner. Die Musik war nun allgemein etwas leiser, trotzdem gaben sich viele Tanzwillige ihrer Leidenschaft hin. Mittlerweile war die zweite Besetzung der professionellen Showgirls auf der Bühne. Santiago hatte sich wieder mal für das Empire entschieden und trank gemeinsam mit Amistad und Damian einen Digestive an der Bar. Ich bestellte pures Wasser, denn mein drittes Glas Champagner machte sich bereits in meiner Blutbahn bemerkbar. Eigentlich wäre jetzt die Zeit gewesen, wo wir alle abtauchen sollten ... in die kunstvoll arrangierte Fantasiewelt des Mr Mayor. Doch ein sanftes Donnergrollen versetzte plötzlich das gesamte Schiff in spürbare Schwingungen. Santiago hielt sich an der Bar fest und blickte Damian fragend an. Ich dachte zuerst an ein Seebeben ... aber dann wurde es immer lauter ... ein aufdringliches, konstantes Dröhnen.
»Ein Hubschrauber!«, erklärte Damian ... zu unser aller Beruhigung. Sofort griff er nach seinem Handy und entfernte sich.
Das Dröhnen der Propeller verstummte und die Lounge- Musik trat wieder in den Vordergrund.
»Fehlt noch jemand von den Ehrengästen?«, fragte Amistad.
Santiago zuckte mit den Schultern. Ich konnte regelrecht beobachten, wie sehr er sich anstrengte, in Gedanken nach einer Person zu suchen, die jetzt in diesem Moment mit dem Hubschrauber auf dem Dach der Cuba Libre gelandet sein könnte. Offensichtlich hatte man ihm nicht Bescheid gesagt.
Damian setzte sich wieder zu uns. »Möchtest du nach oben gehen?«, fragte er Santiago.
»Wozu?«
»Um ihn zu empfangen.«
Santiago lächelte. »Wen?«
»Deinen Überraschungsgast.«
»Wenn er mich überraschen will, muss er zu mir kommen!«, entgegnete Santiago und lehnte sich mit dem Rücken an die Bar. »Und wenn er sich nicht beeilt, dann fangen wir ohne ihn an«, fügte er großspurig hinzu.
»Okay ... dann warten wir.« Damian ließ sich von Santiagos Starallüren nicht beeindrucken, denn die waren jetzt sein geringstes Problem. Auch Amistad zeigte sich relativ gleichgültig, was sich nur darauf begründen konnte, dass er wie Santiago nicht wusste, wer kommen würde.
Ein paar Minuten später war es jedoch um die vorgebliche Gelassenheit aller drei Männer geschehen. Das Sicherheitspersonal öffnete die Tür und vier weiß uniformierte Marineoffiziere betraten den Club, jung und gut aussehend. Sie gaben sich für ihr Alter überzeichnet erhaben, verhielten sich aber gleichzeitig wie Leibwächter, und das machte sie so attraktiv und sexy, dass meine Knie augenblicklich weich wurden. »Die Chippendales!«, war mein erster und letzter freudiger Gedanke zu diesem Thema, denn kurz darauf gaben sie den Weg frei für den eigentlichen Stargast ... und dessen Auftritt raubte nicht nur mir den Atem. Allein schon die Uniform sah sensationell aus und ließ das Outfit seiner Gefolgschaft nur noch als Vorspiel verblassen. Er erschien in sattem Rot – eine Jacke, geschmückt mit goldenen Abzeichen und Kordeln. Sein Ausdruck war streng und unnahbar, geradezu majestätisch, wie auch sein Blick, der suchend durch den Raum schwebte und kurz an Santiago festhielt. Mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken erwies er ihm die Ehre einer angedeuteten Verbeugung, dann wandte er sich seinen jungen Offizieren zu.
Mein Herzklopfen hatte sich binnen Sekunden gesteigert, denn ich kannte diesen Mann. Seine Ausstrahlung sprühte vor Souveränität. Er war deutlich älter als Santiago. In sein markantes, männliches Gesicht hatten sich bereits sanfte Spuren eines bewegten Lebens gezeichnet und eine ganze Menge silbriger Strähnen zog sich gleichmäßig durch sein dunkles Haar. Jedoch sein Alter schien bedeutungslos. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Egal, wie alt er war, ich hatte unbeschreibliches Verlangen danach, vor ihm zu knien. Dieser Mann war nicht nur attraktiv, er war ein sexueller Übergriff. Ich konnte kaum nachvollziehen, dass es Santiago damals im Empire geschafft hatte, ihm den Kuss zu verweigern.
Als ich meine Augen nun endlich von ihm losriss und mich wieder unseren eigenen Männern widmete, wurde ich gerade noch Zeugin eines versuchten Rachemordes. Amistad hatte Damian einen Blick zugeworfen, der ganz klar dazu bestimmt war, ihn zu vernichten. Damian runzelte betroffen seine Stirn und signalisierte Verständnis, aber er konnte sich nicht mit Erklärungen aufhalten, denn der Gast wollte empfangen werden. Und nachdem Santiago dies nicht zu tun bereit war, sprang Damian von seinem Barhocker auf und ging ihm entgegen. Er begrüßte die Herren freundlich und wechselte ein paar Worte, bevor er ihnen den Weg in eine Loge wies. Dort blieben sie stehen und warteten.
»Er möchte sich nicht aufdrängen«, erklärte Damian, als er wieder zurück war.
»Ich hab seinen Namen nicht mehr im Kopf«, gestand Santiago.
»Ray la Comte.«
Santiago nickte, wandte den Gästen den Rücken zu und griff nach einer Zigarette. Offensichtlich wollte er sich etwas Zeit stehlen, um