Tränen brannten in seinen Augen, Garet schluckte sie tapfer herunter und begann anstelle dessen, den Beutel zu öffnen. Schnell, aber behutsam zog er sich die hautenge, schwarze Lackhose und das gleichfarbige Netzhemd an. Die Kombination aus beidem schenkte ihm etwas Verruchtes, wie ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte.
Anschließend zog Garet eine mittelgroße Kosmetiktasche hervor und fing an, sich zu schminken. Zuerst Brauen und Wimpern, dann die Augen selbst. Liebevoll betonte er sie mit schwarzem sowie silberfarbenem Lidschatten und umrandete sie zum Schluss mit einem dunklen Eyeliner. Das Gesicht puderte er großzügig weiß, wobei Garet sich entschied, auf den schwarzen Lippenstift zu verzichten.
Der knurrende Magen verriet ihm, dass er etwas essen sollte, bevor der Ausflug in die Nacht seinen Anfang nahm. Sein Lächeln wirkte echt, als Garet die Parfumflasche zur Hand nahm und den Inhalt weiträumig auf Hals und Kleidung verteilte. Es war ein starker, herber Duft, jedoch nicht zu maskulin. Er, Garet, hatte noch nie Wert darauf gelegt, im klassischen Sinne männlich zu wirken. Im Gegenteil. Die heutigen Klischees, Rollenbilder sowie der Zwang, ihnen um jeden Preis zu folgen, ließen ihn das Gesicht verziehen.
Vielmehr genoss er es, mit seinem von Natur androgynen Äußeren zu spielen und sich bewusst auf der Trennungslinie zwischen Mann und Frau zu bewegen. Obwohl Garet sich mit seinem angeborenen Geschlecht durchaus identifizierte. Er verspürte kein Verlangen, eine Frau zu sein oder dauerhaft als solche zu leben. Doch er sah nicht ein, warum es ihm als Mann verboten war, Kleider zu tragen oder sich zu schminken. So etwas Lächerliches.
Garet stieß die Luft aus und nahm das letzte Kleidungsstück aus dem Beutel. Einen langen, schwarzen Kutschermantel mit Pelerine! Eigentlich war dieser für die gegenwärtige Jahreszeit absolut ungeeignet, aber Garet sah keine andere Möglichkeit. Durch eigene Erfahrungen wusste er, dass sein Äußeres zusammen mit dem freizügigen Outfit gerne falsch verstanden wurden und dabei waren dumme Äußerungen und andere Unverschämtheiten noch die harmloseren Folgen.
Mit Schauern erinnerte Garet sich daran, wie eine Gruppe junger Männer sich um ihn gescharrt und versucht hatten, ihn brutal zu entkleiden. Angeblich, um zu schauen, ob Garet männlich oder weiblich war. Nur seine Kampfsportkünste hatten das Schlimmste verhindert, trotzdem brannte die Erinnerung sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein.
Garet seufzte, versuchte, die unangenehmen Gedanken zu verdrängen und zog den Mantel über. Als er die Toilette verließ, war die Sonne glücklicherweise bereits hinter den Hochhäusern verschwunden, sodass eine kühle Brise wehte. Dennoch rann ihm die eine oder andere Schweißperle über die Stirn, was Garet geflissentlich ignorierte. Ebenso wie die zwischen Bewunderung und Abscheu schwankenden Blicke entgegenkommender Passanten. Jene kannte er zur Genüge und wenn er wollte, konnte er jeden abwertenden Spruch auswendig zitieren.
Zielstrebig steuerte Garet auf einen Kebab-Stand zu und bestellte einen Döner mit Fleisch. Der Inhaber war sichtlich bemüht, seine höfliche, unbeteiligte Miene aufrechtzuerhalten. Doch seine Augen ruhten eine Minute länger auf ihm und auch die Bestellung ließ auf sich warten. Gespielt lässig wählte er einen Tisch und wartete. Außer ihm standen noch einige ältere Männer herum und genossen ihr Feierabendbier.
Jenes taten sie etwas zu sehr, fand Garet und verzog das Gesicht. Ihre geröteten Wangen, die flapsige Sprache sowie der leicht schwankende Gang verrieten, dass sie bereits mehr als eine Flasche konsumiert hatten.
»Hey, bist du ’n Weib oder ’n Kerl?«, flog der erste Satz in Garets Richtung.
Für einen kurzen Moment presste er die Lippen zusammen, sagte jedoch nichts. Es machte keinen Sinn, mit Betrunkenen zu diskutieren. Aus ihnen sprach mehr der Alkohol als der Verstand.
»Wie wäre es, wenn wir nachschauen?«, feixte der Zweite und spöttisches Gelächter folgte.
Garet hingegen überlief es kalt, nicht nur, dass die Erinnerungsfetzen des ersten Vorfalls unbarmherzig auf ihn einströmen. Er hatte auch keine Lust, sich zu prügeln. Seine Hände zitterten.
»Kann ich nicht in Ruhe feiern gehen?«
Schwere Schritte nährten sich von hinten und Garets Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Was passierte jetzt? Würde er erneut seine Künste einsetzen müssen? Er wusste, dass es eigentlich streng untersagt war, doch welche Möglichkeiten gab es? Gegen seinen Willen zuckte Garet zusammen, als eine schwere Hand sich vor ihm auf den Tisch legte, sodass dieser kurzzeitig zu wackeln begann.
»Weißt du, Burschen. Ich sage dir etwas.«
Obwohl er wegen der Alkoholfahne einen Würgereiz unterdrücken musste, schaute Garet sein Gegenüber an. Auf den ersten Blick schien es ein gewöhnlicher, etwa fünfzig Jahre alter Mann zu sein. Seine modische Jeans und das braune Hemd zeugten davon, dass er einer geregelten Arbeit nachging und dabei nicht schlecht verdiente. Doch wer genauer hinschaute, erkannte, dass es noch eine andere, dunkle Seite in seinem Leben gab. Denn seine zitternden Hände sowie die leicht eingefallenen Wangen zeigten, dass er dem Biergenuss regelmäßig und nicht selten über die Grenzen hinaus frönte.
Garet schluckte. Dieser Betrunkene ließ ihn unwillkürlich an seinen Vater denken, der in der Psychiatrie einen harten Entzug machte, um danach für lange Zeit im Gefängnis zu sitzen. Noch immer tobten verschiedene Gefühle in ihm, wenn er daran dachte. Einerseits erfüllte es Garet mit Trauer wegen des schmerzhaften Verlusts, andererseits Erleichterung und eine gewisse Genugtuung. Denn für das, was Wolfram seiner Schwester und ihm angetan hatte, war jene Strafe noch nicht genug. Ohne es zu merken, verfinsterte sich Garets Blick, was den betrunkenen Mann jedoch nicht davon abhielt, weiterzureden.
»So wie du aus … hicks … siehst, wirst du nie ’ne Frau finden.« Er hatte alle Mühe, den gelallten Worten zu folgen. »Frauen stehen auf echte Kerle.«
Prahlerisch warf er sich in die Brust, was Garet angewidert die Lippen schürzen ließ. Natürlich kannte er solche Äußerungen, war seit der Jugendzeit an sie gewohnt. Doch heute prallten die Worte nicht wie sonst an ihm ab, sondern drängten mitten in sein Herz, paarten sich dort mit der unterschwelligen Verzweiflung. Wie in Zeitlupe stand Garet auf, funkelte sein Gegenüber zornig an und bevor dieser reagieren konnte, wurde er am Kragen gepackt.
»Halten Sie sich aus meinem Leben raus«, zischte er gefährlich leise und seine Augen glühten.
Der Betrunkene wimmerte und aus seinem Blick sprach die kalte Furcht. Offensichtlich registrierte sein Gehirn erst jetzt, dass er zu weit gegangen war. Dabei hatte Garet nicht vor, ihn zu schlagen. Solche Menschen waren es nicht wert, dass man sich an ihnen die Finger schmutzig machte. Doch er sollte leiden, ein klein wenig zumindest. Außerdem genoss er die Furcht in seinem Blick. Obwohl es nur ein Bruchteil dessen war, was er tagtäglich durchlebte.
Nach einigen Minuten ließ Garet den Mann los, woraufhin dieser zitternd und aschfahl auf einem Stuhl niedersank. Er starrte ihn an, als wäre er eine Ausgeburt der Hölle, sagte jedoch nichts. Ein letztes Mal grinste Garet ihn höhnisch an, bevor er ohne einen Blick zurück in der Dunkelheit verschwand. Bis zu diesem Zeitpunkt war seine Entscheidung, ins Stahlwerk zu gehen, noch leicht schwammig gewesen.
Obwohl Garet diese Art von Clubs und einzigartige Atmosphäre dort noch immer mochte, schien das Stahlwerk wie ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite eignete es sich ausgezeichnet zum Entspannen sowie schnelles, unkompliziertes Vergnügen, andererseits verband Garet noch immer düstere Erinnerungen mit diesem Ort.
Hier hatte er sich einst wie eine männliche Hure angeboten, um an Informationen über Chris Schober zu gelangen. Dass seine Schwester ihr Herz an einen reichen Schnösel verloren hatte, erfüllte ihn nicht nur mit Schmerz, sondern auch mit Sorge. Denn die meisten wohlhabenden Familien hatten irgendwelche Leichen im Keller und Garet wollte um jeden Preis verhindern, dass Melissa etwas zustieß. Schließlich war ihre häusliche Situation belastend