Umständlich schob Udo Lindenberg seine schlaksige Statur vom Hocker. „Laß dich von ’nem alten Rocker nicht verunsichern“, entschuldigte er sich noch einmal, „ich habe mehr zu mir selbst geredet. Wennste wirklich das Talent hast, kann dich ohnehin keiner aufhalten. Ich hatte ’nen schweren Tag heute. Laß uns morgen einen heben, Alter, dienstags bin ich immer besser drauf. Jetzt besorg’ ich mir ’nen neuen Kopf, ’nen neuen Magen und ’nen neuen Lebenslauf.“ Er hatte sich endlich vom Hocker runtergeschält, ging schnurgerade zum Ausgang und verschwand. So rasch, daß er die nacheilenden Groupies austrickste.
Hans blieb regungslos an der Bar sitzen. Er fühlte sich irgendwie leer, wie die Espressotasse, die der mittlerweile ziemlich beschäftigte Barkeeper noch immer nicht abserviert hatte. Lindenbergs Worte hatten ihn mehr berührt, als er erwartet hatte. Der Typ weiß, wovon er red’t, dachte er. Das war alles andere als das Geschwätz von an Drankler. Mach dir nix vor, Alter, da gibt’s noch was zum Kiefeln für dich. Was meint der nur mit „Seele verkaufen“? Was hätt’ denn i zum Verkaufen? Ich bin nur ich. Mehr war ich nie. Und wann i wirklich was zum Hergeben hätt’? … Tät ich’s? Wie gebannt hing er eine Zeitlang dieser Frage nach.
Klar tät’ ich’s. Meine Großmutter tät’ ich verkaufen. Na, vielleicht nicht grad meine Großmutter. Aber mein Ego sofort, davon hab’ ich eh z’viel. Mein Ego für ein Plakat, auf dem steht: „Hans Hölzel in der Stadthalle!“
Er ließ das Bild ausgiebig auf sich wirken.
Schaut auch irgendwie blöd aus: Hans Hölzel. Klingt wie ein beinamputierter Stelzengeher, den das Gesundheitsministerium für einen Fünfminutenauftritt bei einer Gala für die Kinderkrebshilfe engagiert hat. Vielleicht sollt’ ich mir an Künstlernamen zulegen. Irgendwas Drüberes, wo kein Mensch weiß, wer da wirklich dahintersteckt. Alle reden über Image, ich brauch’ a Image. So ähnlich wie meine Sophisticated-Nummer in der Company. Aber eine echte Rolle diesmal, in der ich so sein kann, wie ich sein muß, und wo die Presse was zum Reiben hat. A ganz a neue Identität …
Hat er das g’meint, der Lindenberg? Meine Identität verkaufen? Na bitte, was is schon so eine kleine Identität gegen des, was ich dafür krieg’? I wanna be rich and famous …
Abrupt schaute Hans, der beim Grübeln die zurückgebliebenen Ränder der Gläser fixiert hatte, die an dieser Bar schon getrunken worden waren, auf und sich selbst im Spiegel hinter der Bar ins Auge.
„Guat, Alter, die Wette gilt!“ sagte er laut. „Wer immer auch dafür zuständig is …“
5. KAPITEL
NENN MICH AB HEUTE FALCO
Scheiß dich an, dachte Hans voller Bewunderung. Lang ausgestreckt lag er auf dem Bett seines Hotelzimmers, die geschmacklosen Vorhänge halb zugezogen, das Doppelkontingent Kissen, für das er dem Stubenmädchen fast ein Heiratsversprechen hatte geben müssen, im Kreuz, einen Aschenbecher auf der Brust. Der kleine Fernseher, in dem der Held der diesjährigen Vierschanzentournee seinen rekordverdächtigen Sprung hingelegt hatte, der Hans eben tiefen Respekt entlockte, war leichter zu haben gewesen. Der war bloß mit Geld bezahlt.
Das Programm, das sich seit Stunden fast ausschließlich um das prestigeträchtige Schispringen drehte, war nicht unbedingt nach Hans’ Geschmack. Aber es tat seinen Zweck. Man starrte ohne viel Anstrengung auf einen Fleck und hatte das Hirn frei für die wichtigen Dinge des Lebens. Was werde ich heute zum Auftritt anziehen?, zum Beispiel. Oder: Wie spann’ zur Abwechslung einmal ich dem Kolbert sei’ neue Oide aus? Und, wie gerade eben jetzt: Wie bastel’ ich mir ein neues Image?
Das gestrige Gespräch mit Udo Lindenberg an der Bar vom „Sugar Shack“ hatte Hans noch in den Schlaf verfolgt. Seit dem Aufwachen aber war es Hans, der etwas verfolgte. Nämlich eine ganz gegenläufige Spur in dem Verwirrspiel namens Karriere. Die Warnung, sich selbst auf dem Weg nach oben zu verlieren, die ihm schon gestern, wenn auch noch entfernt, wie ein Wink des Schicksals vorgekommen war, hatte sich mittlerweile in ihm zur einzigen Lösung des Problems gewandelt. Wer gleich ein anderer wird, kann sich nicht mehr verlieren. Und der erste Schritt dahin war klar wie das Einmaleins: Hans Hölzel war nicht publicitytauglich. Damit werd’ ich höchstens so berühmt wie der Ehemann von der Mona Lisa. Es mußte dringend ein neuer Name her.
„Schanzenrekord“, überschlug sich die Stimme des Reporters im Fernsehen und riß Hans aus seinen Überlegungen. „Falko Weißpflog, meine Damen und Herren, ist auch heute wieder der absolute König dieser Veranstaltung, er hebt ab, wie wenn es keine Schwerkraft gäbe …“ Wie wenn es keine Schwerkraft gäbe, äffte Hans den Sprecher nach. Wie wenn es keine Idee wäre, Kommentatoren zu beschäftigen, die von der Grammatik wenigstens halb so viel Ahnung haben wie vom Sport.
Gedankenverloren schaute er zu, wie der DDR-Springer Falko Weißpflog im Auslauf immer noch die Arme in die Höhe riß. Das muß a G’fühl sein, dachte Hans, bravo Falko. Auch kein schlechter Name, sinnierte Hans, der hat’s gut, bei dem steht das schon im Taufschein. I geh jetzt spazieren.
Es war ein verhangener, mäßig kalter und völlig trockener Wintertag. Hans schlenderte ziellos durch Schwabing. In den Auslagen glitzerte immer noch die Weihnachtsdekoration. Immer wieder blieb er kurz vor einem Geschäft stehen. Allerdings hätte er in den seltensten Fällen sagen können, was man dort verkaufte. Sein Blick blieb schon weit vor der ausgestellten Ware hängen, am Schaufenster, wo er sich versonnen in sein eigenes Spiegelbild vertiefte.
Gar nicht übel, was er da sah. Die Spots in dem Friseurladen, vor dem er gerade haltgemacht hatte, warfen ein gutes Licht auf ihn. Kritisch verengte er die Augen zu schmalen Schlitzen. Markante Züge nennen sie das in den Romanen, dachte er, zog einmal die eine, dann die andere Augenbraue nach oben und drehte ein paarmal versuchsweise den Kopf hin und her, um die Pracht von allen Seiten bewundern zu können. Drinnen stießen sich bereits einige Kunden amüsiert an und deuteten auf den nicht ganz dichten Typen, der ihnen da seine eitlen Grimassen schnitt. Der Besitzer des Ladens trat von innen an die Scheibe heran und grimassierte zurück. Als Hans ihn endlich bemerkte, nahm sein Teint sekundenschnell ein beachtliches Bordeauxrot an.
Die Situation war ihm so peinlich, als hätte ihn ein Pfarrer dabei erwischt, wie er in den Beichtstuhl pinkelte. Die Scham kroch ihm bleischwer in die Beine, er wollte nichts wie weg, konnte sich aber beim besten Willen keinen Millimeter bewegen. Drinnen hatte inzwischen ein kollektiver Lachkrampf um sich gegriffen. Einer von der Sorte, der die Wache vorm Buckingham Palace dazu gebracht hätte, sich am Boden zu wälzen. Und plötzlich mußte auch Hans mitlachen. „Komm herein“, formte der Boß mit den Lippen und gestikulierte wild, um den entrückten Mimen ins Geschäft zu locken. Hans folgte. „Großartige Show, Fremder“, dröhnte der Hausherr, „was bist du, Schauspieler oder nur eitel?“
„Musiker“, antwortete Hans, „ich spiel’ Baß bei der Truppen aus Wien, die im ‚Marienkäfer‘ auftritt.“
„Ah, die Hallucination Company, hab’ schon g’hört davon. Und was hast’n nacher jetz’ da probiert?“
„Jeder hat a Rolle bei uns, i bin der Exzentriker …“
„Ah was! Des hätt’ ma uns nia net denkt“, grölte der Bayer erneut. „Du, da hab’ ich was für dich, das passert genau. Ganz was Neues, hab’ ich gestern erst von an Vertreter rein’kriegt. Wuist es seh’n?“ Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand er im hinteren Teil des Geschäfts und kam gleich darauf mit einem kleinen Tiegel zurück. „Brisk nennt si des, des pickst da in die Haar, klatscht es so z’ruck und dann schaust aus wie der junge Alain Delon.“
„Das kenn’ ich, ich hab’ einmal bei einem Friseurbedarf gearbeitet, da is uns das Zeug immer über’blieben“, winkte Hans ab, „das war so