Jenn konnte nicht anders, als Riley darum zu beneiden.
Natürlich hatte Jenn ihre eigenen Stärken. Sie war klug, einfallsreich, zäh, ehrgeizig…
Und nicht zuletzt selbstsicher, dachte sie mit einem Lächeln.
Gerade war sie sehr zufrieden damit, dass Riley ihr zugestimmt hatte in ihrem Bestreben Duane Scoville erneut zu befragen. Jenn wollte unbedingt einen bedeutsamen Beitrag zur Lösung dieses Falls leisten. Sie bereute einiges in ihrem Verhalten während ihres letzten Falles zu dritt –– dem Fall des sogenannten „Zimmermanns“, der seine Opfer mit einem schnellen und präzisen Hammerschlag tötete.
Eine bittere Bemerkung, die Jenn auf Rileys Kritik hin gemacht hatte, ging ihr bis heute nicht aus dem Kopf…
„Ich nehme an, jetzt wirst Du mir vorwerfen, dass ich nicht objektiv bin.“
Die Bemerkung war ziemlich armselig gewesen –– besonders weil Jenn genau wusste, dass Riley sehr guten Grund hatte an ihrer Objektivität zu zweifeln. Als Schwarze Agentin hatte Jenn sich eine ganze Menge offenen Rassismus gefallen lassen, während ihres Falles in Mississippi. Sie hatte nicht besonders gut damit umgehen können und sie musste im Nachhinein zugeben, dass es ihr Urteilsvermögen beeinflusst hatte.
Sie hoffte, dass sie das nun alles wieder gut machen konnte.
Sie hoffte, dass sie viele Dinge wieder gut machen konnte.
Sie wartete sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie ihre dunkle Vergangenheit endlich hinter sich lassen konnte.
Während sie fuhren, begannen düsterere Erinnerungen sich ihr aufzudrängen –– ihr kaputtes Familienleben und ihre Eltern, die sie beide im Stich ließen, als sie ein Kind war, dann ihre Jahre in der Obhut der genialen, aber bösen Pflegemutter „Tante Cora“. Tante Cora hatte Jenn und ihre anderen Pflegekinder zu Kriminellen Meistern herantrainiert, die in ihrem eigenen kriminellen Netzwerk Aufgaben übernehmen sollten.
Jenn war die einzige unter allen Schülern Tante Coras, die ihr hatte entkommen können, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich. Zunächst stieg sie zu einer ausgezeichneten Polizistin in Los Angeles auf, danach bekam sie phänomenale Noten an der FBI Academy, bevor sie endlich eine vollblütige Agentin der Verhaltensanalyseeinheit wurde.
Trotzdem war es ihr nicht gelungen, Tante Cora endgültig loszuwerden. Die Frau hatte sie dieses Jahr bereits kontaktiert und versucht sie zurück unter ihren Einfluss zu bringen. Sie hatte sogar versucht Jenn zu manipulieren, indem sie Hilfe bei der Aufdeckung eines FBI Falls leistete.
Jenn hatte nun seit einigen Wochen nichts mehr von Tante Cora gehört. Hatte ihre ehemalige Mentorin sie wirklich endgültig in Ruhe gelassen?
Jenn wagte nur zu hoffen.
Gleichzeitig kannte Jenns Dankbarkeit Riley gegenüber keine Grenzen. Riley war die einzige, die die Wahrheit über Jenns Vergangenheit kannte. Und mehr noch –– Riley fühlte mit. Schließlich war Riley selbst einmal mit einem kriminellen Genie verwickelt, dem genialen geflüchteten Verurteilten Shane Hatcher.
Jenn wusste mehr als sonst irgendwer von Rileys Geheimnis, genau wie Riley alles von ihrem wusste. Das war einer der Gründe, wieso Jenn so eine starke Bindung zu ihrer neuen Mentorin aufgebaut hatte –– es war eine Bindung auf Basis gegenseitiger Achtung und Verständnisses. Und wegen dieser Bindung wollte Jenn Rileys hohe Erwartungen an sie unbedingt erfüllen.
„Wir sind fast da.“
Jenn war überrascht eine derartige Veränderung in der Umgebung festzustellen. Die gediegenen, glänzenden weißen Häuser waren verschwunden, genau wie die makellosen Palisadenzänchen., Sie fuhren eine Straße entlang, die von kleineren Geschäften, veganen Restaurants, Bioläden und Second-Hand Geschäften besiedelt war.
Dann kamen sie in eine Nachbarschaft mit kleineren Häusern, die einen etwas schäbigen, aber trotzdem charmanten Eindruck machten. Die Menschen hier waren so verschieden, wie man es sich nur vorstellen konnte, von jungen künstlerischen Typen bis zu älteren Hippies, die so aussahen, als lebten sie hier seit den Sechzigern.
Jenn fühlte sich hier gleich viel wohler, als in der homogenen, ultra-Weißen Gegend, in der die Oberschicht lebte, die sie soeben verlassen hatten. Dies hier war aber nur eine kleine Nachbarschaft, und Jenn ahnte, dass sie immer kleiner wurde.
Gentrifizierung wird immer schlimmer, dachte sie traurig.
Brennan parkte vor einem alten Backsteinhaus, in dem sich mehrere Wohnungen befanden. Er führte Jenn und ihre Kollegen zur Eingangstür. Dort bekam Jenn von Riley einen Blick, der ihr sagte, dass sie ab jetzt übernehmen sollte.
Jenn schaute zu Bill hinüber, der ebenso nickte und ihr zu verstehen gab, sie solle beginnen.
Sie schluckte und drückte Duane Scovilles Klingel.
Erst antwortete ihnen niemand. Jenn fragte sich, ob er womöglich nicht zuhause war. Dann klingelte sie erneut und eine brummende Stimme kam über die Sprechanlage.
„Wer ist das?“
Die Verbindung brach nach wenigen Sekunden ab. Trotzdem meinte Jenn Musik im Hintergrund gehört zu haben.
Jenn antworteteL: „Wir sind vom FBI. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen.“
„Worüber?“
Jenn war ein wenig überrumpelt von einer derartigen Antwort. Und dieses Mal war sich sich sicher, dass sie Musik gehört hatte.
Sie sagte: „Ähm…über den Mord an ihrer Ex-Frau.“
„Ich habe bereits mit der Polizei darüber gesprochen. Ich war nicht in der Stadt, als es passiert ist.“
Die vernahm erneut einen kurzen Fetzen der Musik und diesmal kam sie Jenn bekannt vor –– es gruselte sie beinahe.
Brennan sprach dazwischen: „Hier spricht Polizeichef Brennan. Ich war es, der mit Ihnen gesprochen hatte. Die Agenten hier würden Ihnen gerne ein paar weitere Fragen stellen.“
Erst kam nichts mehr, dann surrte der Türöffner. Jenn öffnete die Tür und sie und ihre Kollegen traten ein.
Sie dachte…
Es klingt nicht gerade danach, als wären wir hier willkommen.
Jenn fragte sich, wieso das wohl sein mochte.
Sie beschloß, dass sie er herausfinden würde.
KAPITEL SECHS
Jenn folgte Chief Brennan ins Gebäude hinein und hinauf in den zweiten Stock. Sie waren dicht gefolgt von Riley und Bill, als sie sich in die Richtung von Duane Scovilles Wohnung bewegten.
Jenn spitzte die Ohren, als sie aus einem Zimmer ganz in der Nähe ein Geräusch kommen hörte.
Schon wieder diese Musik.
Dieses Mal war sich sich sicher, dass sie die Musik zuvor gehört hatte, doch es war lange her gewesen und sie war sich nicht sicher, wo und wann es war. Es war ein klassisches Stück –– etwas langsames, sanftes und unglaublich trauriges.
Sie kamen zur Tür von Scovilles Wohnung und Chief Brennan klopfte an die Tür.
Eine Stimme aus dem Inneren rief: „Herein.“
Als sie eintraten war Jenn überwältigt von der Unordnung, die in der Wohnung herrschte. Ein Chaos breitete sich aus und der Boden war mit leeren Bierflaschen und Verpackungen von Essen übersäht.
Um die zehn Gitarren standen an Ständern, lagen in offenen Koffern oder hingen irgendwo in Sichtweite. Einige von diesen waren akustische, andere elektrische Instrumente. Außerdem waren Verstärker, Boxen und andere elektronische Musikausstattung über die gesamte Fläche der Wohnung verstreut.
Duane Scoville