Sie hörte zu, als der Pastor die biblischen Passagen vorlas. Obwohl ihre Gedanken bei Debbie waren, konnte sie nicht umhin sich immer wieder zu fragen, wie dies hatte passieren können. Seit sie aus Washington DC zurückgekehrt war, hatte sie sich noch nicht direkt nach einem Einbruch erkundigt, hatte die Ohren aber offen gehalten. Auch Jane und Clarissa hatten keinen Einbruch erwähnt. Und das war merkwürdig, denn dank ihres Hanges zum Tratschen kannte Clarissa normalerweise alle Details.
Als sie Debbie und Jim anblickte, bemerkte sie neben Jim einen großen Mann. Er war relativ jung und sah toll aus, auf eine adrette Art und Weise. Sie stieß Jane an und fragte „der Große dort neben Jim. Ist das Julies Ehemann?“
„Ja. Er heißt Tyler. Sie waren noch nicht lange verheiratet. Nicht einmal ein Jahr, glaube ich.“
Es kam Kate in den Sinn, dass sich die Mitglieder ihres kleinen Frühstücksklubs einander wohl doch nicht besonders gut kannten. Sicher, über ihre früheren Jobs wussten sie alles, genauso, welche koffeinhaltigen Getränke bevorzugt wurden und was für Wünsche und Träume sie für ihren Ruhestand hatten. Aber viel tiefer waren die Unterhaltungen nie gegangen. Es war fast wie ein unausgesprochenes Abkommen. Nur selten hatten sie über ihre jeweiligen Familien gesprochen. Sie hatten ihre Unterhaltungen auf einem oberflächlichen Level gehalten, amüsant und unterhaltsam.
Daran war natürlich nichts verkehrt, aber am Ende musste Kate feststellen, dass sie sehr wenig über die Familie Meade wusste. Alles was sie wusste, war, dass Julie deren einziges Kind war… genauso, wie Melissa ihr einziges Kind war. Melissa und sie standen sich zwar nicht mehr ganz so nahe wie einst, doch allein die Vorstellung, sie zu verlieren, war nicht auszuhalten.
Kate und ihr Grüppchen schlossen sich den Leuten an, die sich mit Umarmungen und Händeschütteln nach der Beerdigung verabschiedeten. Allerdings hielt sich Kate ein wenig im Hintergrund und drückte sich in einer Ecker herum, wo einige rauchten. Obwohl Kate selbst nicht rauchte – sie verabscheute diese Gewohnheit – wollte sie jedoch eine Weile aus dem Blickfeld verschwinden. Ihre Augen suchten die Ansammlung von Menschen ab, bis sie die großgewachsene Statue von Tyler Hicks erblickten. Er sprach mit einem älteren Paar, das offen weinte. Tyler aber tat sein Bestes, ruhig zu bleiben.
Nachdem sich das ältere Paar verabschiedet hatte, ging Kate zu Tyler herüber, der gerade auf eine Frau mittleren Alters, die ihre beiden Kinder dabei hatte, zuging. Kate schaffte es, ihn zuerst zu erreichen.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie und stellte sich vor ihn. „Sie sind Tyler, nicht wahr?“
„Der bin ich“, sagte er. Als er sich ihr zuwandte, stand ihm die Trauer ins Gesicht geschrieben. Er war erschöpft, müde und wirkte komplett ausgelaugt. „Kennen wir uns?“
„Ehrlich gesagt, nein“, sagte sie. „Ich bin eine Freundin von Julies Mutter. Ich heiße Kate Wise.“
Einen kurzen Augenblick glitt ein Ausdruck des Erkennens über sein Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sein Gesicht fast lebendig aus. „Ja, Debbie hat Sie erwähnt. Sie sind FBI Agent oder so etwas, richtig?“
„Kürzlich pensioniert, aber ja, das ist richtig.“
„Es tut mir leid, dass sie Sie gebeten hat, in dem Mord an Julie zu ermitteln. Das war sicherlich eine unangenehme Situation.“
„Kein Grund sich zu entschuldigen“, sagte Kate. „Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, was sie durchmachen muss. Aber Sehen Sie… ich werde mich kurz fassen. Ich werde nicht viel von Ihrer Zeit beanspruchen. Debbie wollte, dass ich Julies Ex-Freund überprüfe. Ich hatte noch keine Zeit, mit ihr darüber zu sprechen, aber er war es definitiv nicht.“
„Mrs. Wise, Sie müssen das nicht für Debbie tun.“
„Ich weiß“, antwortete sie. „Aber ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht ein paar kurze Fragen beantworten können.“
Zuerst sah er beleidigt aus, aber dann gab er nach. Ein neugieriger und trauriger Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er fragte: „Meinen Sie, es gibt Fragen, die von Bedeutung sein könnten?“
„Vielleicht.“
„Dann werde ich sie natürlich beantworten. Aber fassen Sie sich bitte kurz.“
„Natürlich. Als Sie wieder zuhause waren, ist Ihnen da etwas aufgefallen, dass merkwürdig war oder nicht dorthin gehörte? Vielleicht etwas, das Ihnen, wenn man bedenkt, was gerade passiert war, nicht wie eine große Sache erschien. Etwas, was Sie vielleicht später überprüfen wollten, wenn sich alles beruhigt hatte?“
Langsam schüttelte er den Kopf und blickte herüber zu der Stelle, an der seine Frau innerhalb der nächsten Stunde ins Erdreich hinab gesenkt würde. „Nichts, woran ich mich erinnere.“
„Gab es nicht einmal irgendwelche Anzeichen für einen Einbruch?“
Er blickte sie aufmerksam an und sah ein wenig erschrocken aus. „Wissen Sie, das habe ich mich selbst auch schon gefragt“, sagte er. „Als ich am nächsten Tag zurückkehrte, waren alle Türen verschlossen. Ich habe geklingelt, weil mein Haustürschlüssel in einer meiner Taschen war und ich nicht anfangen wollte, herumzuwühlen. Aber Julie machte nicht auf. Bis gestern, als ich versuchte einzuschlafen, habe ich nicht einmal daran gedacht. Irgendjemand ist ohne Mühe ins Haus gekommen. Also wusste dieser Jemand, wie man hinein kommt. Aber das macht keinen Sinn.“
„Und warum nicht?“
„Weil es einen Code für die Alarmanlage gibt, den nur Julie, ich selbst und die Putzfrau kennen. Wir ändern ihn alle zwei Monate.“
„Gibt es etwas Verdächtiges hinsichtlich der Putzfrau oder ihrer Familie?“
„Naja, sie ist fast sechzig. Ihre Familie kennen wir nicht. Die Polizei hast sie überprüft, aber nichts gefunden.“
„Und wie steht es mit Ihnen?“, fragte Kate. „Fällt Ihnen jemand ein, der in Betracht kommt, so etwas zu tun?“
Ohne groß darüber nachzudenken schüttelte er den Kopf. „Seit ich nach Hause gekommen und ihre Leiche gefunden habe, denke ich permanent darüber nach, ob jemand einen Grund gehabt haben könnte, sie umzubringen – oder auch nur wütend auf sie zu sein. Aber es fällt mir niemand ein.“ Hier machte er eine Pause und schaute sie skeptisch an. „Sie sagten, Sie sind pensioniert. Weshalb interessiert Sie dieser Fall dann so sehr?“
Sie gab dir einzige Antwort, die ihr akzeptabel erschien. „Ich möchte einfach alles tun, um Debbie inneren Frieden zu geben.“
Aber sie wusste, dass noch eine andere Wahrheit dahinter steckte. Und diese war egoistischer Natur.
In diese Ermittlungen involviert zu sein gibt meinem Leben mehr Sinn als es im ganzen letzten Jahr, seit Beginn meines Ruhestandes, der Fall war.
„Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen“, sagte Tyler. „Wenn Sie noch etwas von mir benötigen, melden Sie sich bitte.“
„Das werde ich“, sagte sie und gab ihm einen leichten Klaps auf den Rücken, bevor sie ihn seiner Trauer überließ. Tatsächlich bezweifelte sie, dass sie je wieder mit ihm sprechen würde. Sie war lange genug Agent gewesen, um einen unschuldigen Mann mit gebrochenem Herzen zu erkennen. Sie würde um alles in der Welt wetten, dass Tyler Hicks seine Frau nicht ermordet hatte. Sie hatte schon ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn nach der Beerdigung seiner Frau befragt hatte. Ab jetzt würde sie sich von Tyler fernhalten. Wenn er weiter behilflich sein konnte, sollte sich die Polizei darum kümmern.
Sie stieg in ihren Wagen und reihte sich in die Schlange der langsam fahrenden Autos ein, die gerade den Friedhof verließen. Als sie nach Hause fuhr, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Melissa