Kim erinnerte sich an ihren ersten Job als Kindermädchen, während sie in der Küche des Hauses von Bill und Sandra Carver saß. Es war schwer zu glauben, dass es bereits etwas über zehn Jahre her war. Eine Zeitspanne, in der die Erinnerungen an ihre Arbeit in DC verschwommen waren. Das Schreiben von Reden, voll von Hoffnung und einem kleinen Stückchen Unwahrheit.
Ihr Laptop stand vor ihr. Sie hatte vierzigtausend Wörter in ihrem Buch erreicht. Sie dachte, dass dies ungefähr die Hälfte sein würde. Vielleicht wäre sie in etwa sechs Monaten oder so fertig. Es hing alles davon ab, in welche Richtung sich die Leben der drei Carver Kinder entwickelten. Das älteste Kind, Zack, war dieses Jahr in der neunten Klasse und sein liebster Zeitvertreib war es, Football zu spielen. Das mittlere Kind, Declan, spielte Fußball. Und wenn die jüngste, Madeline, beim Turnen blieb, würde Kim in den nächsten Monaten wie wild hin und her hetzen müssen.
Sie schloss den Deckel ihres Laptops und sah sich in der Küche um. Sie taute zum Abendessen ein Hühnchen auf. Die Arbeitsplatten waren bereits abgewischt, das Geschirr gespült und die vierte Ladung Wäsche befand sich in der Waschmaschine. Bis die Kinder nach Hause kamen, hatte sie nichts weiter zu tun. So hatte sie die letzten fünfundvierzig Minuten an ihrem Buch arbeiten können.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sich der Tag von ihr davongeschlichen hatte – etwas was, wie sie allmählich zu verstehen begann, Kindermädchen häufig passierte. In fünfzehn Minuten würde sie losgehen müssen, um die Kinder von der Schule abzuholen … und das war keine kleine Leistung, da die Carver-Kinder verschiedene Altersstufen hatten, die jüngste in der Grundschule, das mittlere Kind in der Mittelschule und das älteste Kind in der High-School. Alles in allem war es mehr als eine Stunde Fahrt- und Verkehrszeit, um sie alle von der Schule abzuholen und mit ihnen nach Hause zurückzukehren. Es klang aber schlimmer, als es war, da Kim vor kurzem entdeckt hatte, wie wundervoll Hörbücher sein können, um die Zeit im Auto zu überbrücken.
Sie stand auf und prüfte das Hühnchen, das nun fast vollständig aufgetaut in der Spüle lag. Dann nahm sie die Wäsche aus der Maschine und stopfte sie in den Trockner. Sie holte alle Gewürze heraus, die sie für das Abendessen brauchen würde. Als sie das Paprikagewürz auf die Arbeitsplatte stellte, klopfte jemand an die Haustür.
Dies kam im Hause der Carvers sehr häufig vor. Sandra Carver war ein Amazon-Junkie und Bill Carver hatte immer Baupläne und Entwürfe, die per FedEx zu ihm geschickt wurden. Kim griff nach ihrer Handtasche und dachte, dass sie, nachdem sie die Pakete ins Haus gebracht hatte, losgehen würde, um die Kinder abzuholen.
Sie öffnete die Tür und richtete ihren Blick sofort auf den Fußboden der Veranda, um nach dem Amazon-Paket zu suchen. Deshalb brauchte ihr Gehirn auch eine ganze Sekunde, um zu verstehen, dass dort eine Person vor ihr stand. Als sie aufschaute, um das Gesicht zu sehen, wurde ihr Blickfeld durch – etwas – blockiert.
Was auch immer es war, es schlug gegen ihren Kopf. Es traf sie genau zwischen den Augen, am oberen Ende des Nasenrückens. Das schmetternde Geräusch in ihrem Schädel war ohrenbetäubend, aber sie hatte kaum Zeit, es zu bemerken, bevor das Gefühl des Fallens alles andere überkam.
Als sie rückwärts auf den Parkettboden der Carvers fiel, schlug ihr Hinterkopf heftig auf. Sie spürte, wie Blut aus ihrer Nase floss, als sie versuchte, rückwärts zu krabbeln.
Die Person auf der Veranda kam herein. Sie schloss lässig die Tür hinter sich. Kim versuchte zu schreien, aber in ihrer Nase war zu viel Blut, das in ihren Rachen und Mund hinunterlief. Sie hustete und würgte fast, als die Person einen großen Schritt vorwärts trat.
Sie hob den dumpfen Gegenstand wieder hoch – ein Rohr, dachte Kim vage, als der Schmerz wie ein Orkan durch sie hindurchfegte – und dies war das Letzte, was sie sah.
Kurz vor diesem letzten Schlag hatte sie einen wirklich seltsamen Gedanken. Kim Wielding starb, als sie sich fragte, was wohl mit dem Hühnchen passieren würde, das noch immer in der Spüle der Carvers auftaute.
KAPITEL EINS
Wegen der Art und Weise, wie ihr Leben begonnen hatte – mit einer toten Mutter, einem inhaftierten Vater und Großeltern, die ihr immer im Nacken saßen – bevorzugte es Chloe Fine oft, Dinge alleine zu machen. Viele Leute bezeichneten sie als extrem introvertiert und was sie anging, war das völlig in Ordnung. Es war diese Persönlichkeit, die sie dazu getrieben hatte, in der Schule außergewöhnlich gute Schulnoten zu bekommen und die ihr geholfen hatte, ihr Studium und das Training an der FBI-Akademie zu bewältigen.
Aber es war auch diese gleiche Persönlichkeit, die sie dazu veranlasst hatte, in ihre neue Wohnung einzuziehen, ohne dass sie eine einzige Person hatte, die ihr dabei half. Sicher, sie hätte eine Umzugsfirma anheuern können, aber ihre Großeltern hatten sie den Wert des Geldes gelehrt. Und da sie starke Arme, einen starken Rücken und einen sturen Kopf besaß, entschied sie sich, alleine umzuziehen. Schließlich hatte sie nur zwei schwere Möbelstücke. Alles andere sollte eine Kleinigkeit sein.
Wie sich herausstellte, war dies nicht der Fall, als es ihr schließlich gelang, ihre Kommode die Treppe hinauf zu hieven – mithilfe einer Sackkarre, mehrerer Zurrgurte und einer glücklicherweise breiten Treppe, die zu ihrer Wohnung in den zweiten Stock führte. Ja, sie hatte es geschafft, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie dabei ein oder zwei Muskeln in ihrem Rücken gezerrt hatte.
Sie hatte die Kommode bis zum Schluss gelassen, da ihr bewusst war, dass dies der schwierigste Teil des Umzugs sein würde. Sie hatte absichtlich alle Kisten nur leicht gepackt, da sie wusste, dass es ein Ein-Frauen-Job werden würde. Vermutlich hätte sie Danielle anrufen können und sie hätte geholfen, aber Chloe war nie der Typ gewesen, der die Familie um Gefälligkeiten bat.
Chloe wich ein paar Kisten mit Büchern und Heften aus und ließ sich in den Sessel fallen, den sie schon seit ihrem zweiten Jahr im Studium hatte. Der Gedanke, Danielle hier bei sich zu haben, um alle ihre Sachen zu sortieren und die Wohnung einzurichten, war verlockend. Die Dinge zwischen ihnen beiden waren nicht mehr ganz so angespannt, seit Chloe die Wahrheit darüber herausgefunden hatte, was zwischen ihren Eltern passiert war, als sie junge Mädchen waren, aber da war definitiv noch etwas anderes. Sie waren sich der Last ihres Vaters, die auf ihren Schultern ruhte, beide sehr bewusst – die Wahrheit über das, was er getan hatte und die Geheimnisse, die er verborgen hatte. Chloe hatte das Gefühl, dass sie beide mit diesen Geheimnissen auf ihre eigene Art und Weise umgingen und sie wusste auf eine fast hellseherische Art, wie sie nur nahe Geschwister teilen konnten, dass sich ihre Meinungen dazu sehr unterschieden.
Was sie Danielle gegenüber nie zugeben würde, war, wie sehr sie ihren Vater vermisste. Danielle hatte es ihm immer übelgenommen, nachdem er ins Gefängnis gesteckt worden war. Aber Chloe war diejenige gewesen, die diese Vaterfigur in ihrem Leben vermisst hatte. Sie war immer diejenige gewesen, die gewagt hatte zu hoffen, dass die Polizei vielleicht etwas falsch gemacht hatte – dass ihr Vater auf gar keinen Fall ihre Mutter getötet hatte.
Und es war diese Hoffnung und dieser Glaube gewesen, der zu dem kleinen Abenteuer führte, das sie gemeinsam unternommen hatten und welches in der Festnahme von Ruthanne Carwile und einem völlig neuen Blickwinkel auf den Fall Aiden Fine resultierte. Das, was für Chloe irgendwie nach hinten losgegangen war, war jedoch die Tatsache, dass sie ihn durch die Aufdeckung dieser kleinen Geheimnisse nur noch mehr zu vermissen begann. Und sie wusste, dass Danielle das schrecklich und auf eine Art vielleicht sogar masochistisch finden würde.
Trotzdem wollte sie Danielle anrufen, um ihren kleinen und doch hart erarbeiteten Sieg des Umzugs in ihr neues zu Hause zu feiern. Es handelte sich nur um ein kleines Zwei-Zimmer-Apartment im Stadtteil Mount Pleasant in Washington, DC – klein, kaum erschwinglich, aber genau das, wonach sie gesucht hatte. Es war ungefähr zwei Monate her, seit sie das letzte Mal Zeit miteinander verbracht hatten – was seltsam war, wenn man bedachte, was sie bei ihrem letzten Zusammentreffen gemeinsam durchgemacht hatten.