Frau Gruber schiebt ihre rote Brille hoch. „Eine Geistergeschichte also. Das ist ja einfallsreich.“
„Aber wenn ich es doch sage, auf meinem Dach wohnen wirklich ...“, versucht Greta, ihr zu erklären, aber Frau Gruber schneidet ihr das Wort ab.
„Papperlapapp! Deine Eltern haben recht. Es gibt keine Geister! Ich meine, wozu sollte es sie auch geben? Sie sind vollkommen zwecklos, eine reine Erfindung, mehr nicht. Hör auf, an sie zu denken, dann schläfst du besser und ärgerst keine anderen Kinder!“
Greta ballt die Fäuste. „Aber ich höre sie doch nachts. Und sie lassen mich nicht schlafen.“
Frau Gruber sieht sie eindringlich aus ihren blassblauen Augen an und seufzt schwer, so als müsse sie der kleinen Schülerin etwas erklären, was diese einfach nicht zu verstehen imstande ist.
„Greta, es gibt Geschichten über Geister, schön und gut. Aber existieren tuen sie höchstens in deiner Fantasie. Und da dann irgendwann auch nicht mehr. Also, lass Caro und Ruben in Frieden und erzähle keine krummen Geistergeschichten mehr!“
„Aber ich lüge doch nicht!“, ruft Greta und stemmt die Hände in die Hüften. „Es gibt sehr wohl Geister – auf meinem Dach!“
Frau Gruber streicht sich gequält eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. „Es war der Wind“, erklärt sie knapp.
„Es war windstill“, entgegnet Greta. Frau Gruber kann doch nicht einfach behaupten, sie lüge und erzähle Geistermärchen, nein, das kann sie nicht auf sich sitzen lassen! Sie verzieht das Gesicht, so wie sie es immer macht, wenn sie mit Papa böse gucken übt: Augen auf das Gegenüber gerichtet, Augenbrauen zusammengezogen und Mund schnurdünn zusammengepresst.
Aber Frau Gruber schüttelt nur den Kopf und schickt sie zurück ins Klassenzimmer.
*
3
Die folgende Stunde ist Musikunterricht. Frau Gruber hat im Klassenzimmer die Tische beiseitegeschoben und bittet die Kinder, einen Stuhlkreis zu bilden. Greta schiebt ihren Stuhl neben Jupps.
Jupp ist neu in der Klasse und erst vor Kurzem mit seinen Eltern aus Hamburg hergezogen. Er hat wuschelige, helle Haare und blaue Augen, in denen es funkelt, wenn er lacht.
Greta mag ihn sehr.
Außerdem hat er einen blauen, mit einem bunt karierten Tuch abgedeckten Eimer, den er immer bei sich trägt. Niemand darf hineinsehen. Auch Frau Gruber nicht. Und das ärgert sie gewaltig ...
„Jupp, bring den Eimer raus, damit wir endlich anfangen können zu singen“, fordert sie ihn auf, als alle Kinder nach langem Stühlerücken endlich im Kreis sitzen.
„Wir können doch auch so anfangen zu singen“, erwidert Jupp.
„Ein Eimer hat aber im Unterricht nichts zu suchen“, widerspricht Frau Gruber.
„Mein Eimer sucht auch gar nichts, er steht einfach nur da“, erklärt Jupp.
Greta und ein paar andere Kinder kichern.
Frau Grubers Augenbrauen türmen sich über ihrer roten Brille auf wie Gewitterwolken und sie wiederholt energisch: „Der Eimer muss raus! Jetzt!“
„Gut“, sagt Jupp und erhebt sich vom Stuhl. „Dann muss auch ich raus, denn es ist wichtig, dass der Eimer bei mir bleibt.“ Er ergreift seinen Eimer und geht stolz zur Tür hinaus.
Anerkennend blickt Greta ihm nach. Sie weiß genau, was ihr Vater nun sagen würde: „Der Junge hat Schneid.“
Als Greta den Ausdruck zum ersten Mal hörte und ihren Vater fragte, was es denn bedeute, wenn jemand Schneid habe, da erklärte er ihr mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: „Schneid, meine liebe Greta, haben diejenigen Menschen, die bei einem bleiben, auch wenn alle anderen wegrennen. Wenn zum Beispiel ein Kind im Pausenhof ruft: Die Greta ist doof, lasst uns schnell wegrennen! Und alle folgen und rennen davon wie die Hasen, doch ein Kind bleibt trotzdem bei dir und sagt: Ich mag dich. Dann ist das ein Mensch, der Schneid hat.
Und solche Menschen sind die besten Freunde. Nur treue und mutige Menschen haben den Schneid, das zu tun, was sie für richtig halten, selbst wenn andere anders handeln.“ So hatte ihr Vater es ihr erklärt.
Und nun hatte Jupp also den Schneid, bei seinem Eimer zu bleiben, weil er es für richtig hielt, obwohl er wusste, dass er sich dafür Ärger mit Frau Gruber einheimsen würde.
Und tatsächlich. Nach Frau Grubers von rosa zu fleckig rot wechselnder Gesichtsfarbe zu urteilen, findet sie Jupps Benehmen einfach unmöglich. Mit rasselndem Atem ringt sie nach Luft und bittet Ruben ungeduldig, nun endlich das Lied An meiner Ziege hab ich Freude anzustimmen.
Da klappt Greta ihr Liederbuch zu. „Ich gehe mit Jupp“, erklärt sie.
*
4
So kommt es, dass Jupp und Greta sich im Gang bei den Garderoben wiederfinden. Jupp hat den blauen Eimer neben sich auf die Holzbank gestellt. Er hat das karierte Tuch, das normalerweise den Eimer bedeckt, ein wenig zur Seite gelupft und macht ein besorgtes Gesicht. Greta beobachtet ihn, wie er behutsam die Hand in den Eimer steckt, und hält den Atem an. Das Geheimnis des Eimers hat natürlich auch sie gepackt.
Einige Sekunden vergehen, dann lächelt Jupp. „Alles okay“, sagt er. Seine Stimme klingt erleichtert. „Der Herzschlag ist ruhig und gleichmäßig. Er schläft heute nur so ungewöhnlich lange ...“
Greta zögert. Es ist das erste Mal, dass Jupp über sein Geheimnis spricht. Nun weiß sie also, dass es etwas Lebendiges sein muss, das in dem Eimer steckt. Denn nur Lebewesen haben einen Herzschlag.
Aber was kann es nur sein, das er vor allen versteckt?
Für einen Fisch fehlt das Wasser im Eimer.
Für ein Kaninchen ist der Eimer zu klein.
Eine Schlange passt irgendwie nicht zu Jupp.
Vielleicht ist es ein Hamster?
Da fragt Jupp plötzlich: „Möchtest du mal hineinsehen?“
„Worein?“, fragt Greta verblüfft.
„Na, in den Eimer!“
Greta verschluckt sich beinahe, so aufgeregt ist sie nun. Will Jupp sie tatsächlich in sein Geheimnis einweihen?
„Aber sei schön vorsichtig, er ist noch ein Baby!“, warnt er.
Nun platzt Greta beinahe vor Neugier, doch sie zögert noch immer.
„Nur zu!“, ermuntert Jupp sie noch einmal.
Ganz behutsam hebt Greta das Tuch an. Zuerst erkennt sie nicht genau, was auf dem Eimerboden liegt, und zwinkert ein paarmal. Doch dann gibt es keinen Zweifel mehr. Dort, in einem Nest aus Heu, liegt ein klitzekleiner Geist und schläft.
Greta ist entzückt, so süß sieht er aus. Alles an ihm ist rund und niedlich. Sein handtellergroßer weißer Körper, sein Kopf und seine Händchen. Füße hat er keine. Ist ja auch klar, Geister schweben, sie brauchen keine Füße.
„Er ist wunderschön“, jauchzt sie. „Wo hast du ihn her?“
„Ich habe ihn gefunden“, erklärt Jupp. „In der Hecke beim Bäcker Koll.“
„Und er war ... ganz