Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanspeter Born
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907146866
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Mann, der freiwillig bereit war, die Nachrichten zu verlesen. Pilet will wissen, wie eine solche carence, Unzulänglichkeit, möglich war. Er fügt ein paar kritische Worte zu den Nachrichtensendungen hinzu. In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch seien sie «recht gut gemacht» gewesen, dann aber habe er ein deutliches Nachlassen festgestellt. Nachlassen betreffend «die Redaktion und Aktualität der Nachrichten und die Qualität der Sprecher». Selbst ein Bellettrien kann pingelig sein. Pilet endet mit einer Drohung:

      Ich bitte Sie, rasche Abhilfe zu schaffen. Andernfalls müsste ich eine andere Lösung in Betracht ziehen, die zu veranlassen, mir übrigens ein Leichtes wäre. Wenn Sie eine Audienz wünschen, bin ich bereit sie Ihnen zu gewähren. Agréez, Monsieur le Directeur, l’expression de mes sentiments très distingués. sig. Pilet-Golaz

      Im Namen der Depeschenagentur entschuldigt sich Vizedirektor Boss schriftlich beim Bundesrat. Bei der Aufstellung des Dienstplans seien unglücklicherweise die Namen zweier Sprecher verwechselt worden. Deshalb seien beide Herren an jenem Abend leider daheim geblieben. Die Sprecher hätten die Gewohnheit, direkt in die Sprecherkabine zu gehen, ohne sich vorher beim Dienstchef zu melden. Deshalb habe der Dienstchef erst nach einigen Augenblicken der Funkstille gemerkt, dass kein Sprecher da war. Geistesgegenwärtig sei er eilig die Treppen zur Sprecherkabine hinaufgestiegen und habe selber das Bulletin verlesen. Da er ausser Atem im 5. Stock angekommen sei, «litt seine Diktion».

      Vizedirektor Boss schreibt: «Es handelt sich um das erstmalige Vorkommen eines derartigen ‹Arbeitsunfalls› (den ersten bei uns), wie er das eine oder andere Mal in irgend einem Betrieb vorkommen könnte.» In andern Worten: Alles nicht so tragisch. Die Erklärung genügt Pilet nicht. Umgehend antwortet er nicht Vizedirektor Boss, sondern Direktor Lüdi persönlich:

      Die öffentlichen Dienste müssen ein Beispiel von Ruhe, Überlegtheit und Kaltblütigkeit geben; dies ist ihre erste Aufgabe. Vorgestern wäre es mit etwas Geistesgegenwart leicht gewesen, die Hörer zu warnen, dass aus personellen oder technischen Gründen der Nachrichtendienst um einige Minuten verschoben werde. Niemand wäre beunruhigt gewesen. Der Ersatzsprecher hätte Atem schöpfen, sein Bulletin aufmerksam durchlesen und dann die Nachrichten in aller Ruhe durchgeben können.

      Die Vergangenheit ist die Vergangenheit, wir können nichts mehr daran ändern, und es ist nicht dies, was mich beschäftigt. Es ist die Zukunft, und ich lade Sie ein, alles vorzukehren, damit ein «Arbeitsunfall» – ich übernehme Ihren Ausdruck – wie der letzte sich nicht wiederholt.

      7. Abhörprotokolle

      Pilet verfolgt die Nachrichtensendungen auch deshalb genau, weil er gut informiert sein will. Schon als Präsident der Lausanner Sektion von Belles-Lettres oder als Offizier lag ihm daran, mehr zu wissen als seine Kameraden. Man kann nur richtig entscheiden, wenn man genau Bescheid weiss.

      Pilet erwartet von seinen Mitarbeitern, dass sie alle Aspekte der Frage gründlich studieren und ihm Bericht erstatten. Oft gibt er seine Weisungen schriftlich und erwartet schriftliche Antworten. Gegenüber Parlament und parlamentarischen Kommissionen besitzt er fast immer einen Wissensvorsprung, aus dem er kein Geheimnis macht. Nicht alle schätzen seine Neigung zu Rechthaberei.

      Eine von Pilet regelmässig benutzte Informationsquelle sind die Zeitungen. Die grossen Schweizer Blätter geben die von den internationalen Nachrichtenagenturen verbreiteten offiziellen Meldungen, besonders die Heeresberichte aus dem Ausland, wieder. Sie drucken ausführliche Zusammenfassungen der Reden ab, die von den massgeblichen ausländischen Staatsmännern gehalten werden. Ihre Leser können sich dann selber einen Reim machen. Die wichtigsten Blätter beschäftigen kluge Kommentatoren und kompetente Militärexperten, die oft besser imstande sind, das Geschehen auf dem diplomatischen Parkett und den Kriegsschauplätzen zu analysieren als die Mitarbeiter von Oberst Massons Nachrichtendienst.

      Marcel Pilet liest seit seiner Jugend die Gazette de Lausanne, die er zusammen mit dem Parteiblatt La Revue abonniert hat. Die Gazette, die unbestritten beste Zeitung der welschen Schweiz, ist Pilets Leibblatt, das er täglich sorgfältig liest. In Inhalt und Stil braucht sie den Vergleich mit den besten Pariser Blättern nicht zu scheuen. Redaktoren und Mitarbeiter zeichnen ihre Artikel mit Namen oder den Lesern bekannten Kürzeln. Dies unterscheidet die Gazette von der Neuen Zürcher Zeitung, die in der Deutschschweiz eine ähnlich dominierende Stellung hat wie sie. Die anonymen Artikel in der NZZ geben nicht die Meinung der einzelnen Artikelschreiber wieder, sondern die Meinung der Zeitung. Während sich die Gazette um eine allgemein verständliche Sprache bemüht, bildet sich die NZZ viel auf ihre kunstvoll aufgebaute Satzkonstruktion ein. Sie vermeidet die Nennung von Namen als Quellen und spricht lieber von «gut unterrichteten Kreisen». Eigentlich ist das Blatt an der Falkenstrasse, auch «alte Tante» genannt, nur für Eingeweihte wirklich verständlich. Wenn Pilet eine Deutschschweizer Zeitung liest, was er nicht regelmässig tut, zieht er die Basler Nachrichten Oeris vor. Er durchblättert andere welsche Zeitungen und renommierte französische Publikationen. Zu wichtigen Fragen, die sein Departement oder den Gesamtbundesrat betreffen, schneiden seine Mitarbeiter für ihn einschlägige Zeitungsartikel aus.

      Seit Kriegsbeginn sind auch ausländische Radiosendungen für Pilet eine Informationsquelle. Ende August 1939 ist im «Office», der Direktion des verstaatlichten Schweizer Rundspruchs, eine Radioabhörstelle eingerichtet worden – wahrscheinlich auf Anordnung von Pilet persönlich. Die wichtigsten, von den offiziellen Rundfunkanstalten in Deutschland, Frankreich, Italien und England ausgestrahlten Meldungen werden an der Berner Neuengasse abgehört und auf Wachswalzen aufgenommen. Stenografinnen erstellen dreimal täglich einen «Abhörbericht». Pilet verlangt von den Abhörern, dass sie die Meldungen der ausländischen Sender sachlich und kommentarlos zusammenfassen. Die 23 gedruckten Exemplare gehen an teils namentlich genannte Personen in der SR-Direktion an der Neuengasse, in der PTT-Generaldirektion, im Bundeshaus und im Generalstab der Armee.

      Pilet als Chef des Postdepartements kriegt noch andere Abhörprotokolle, nicht als gedruckte Berichte, sondern in der Form von Kohlekopien auf Transparentpapier. Sie sind geheim, denn die Öffentlichkeit darf nicht wissen, dass Telefonate heimlich abgehört werden. Seit bald zwei Jahren belauscht die von Muri geleitete TT-Direktion Telefongespräche ausländischer Gesandtschaften und verdächtiger Personen. Die Schweiz tut was im Ausland gang und gäbe ist.

      Dass Telefonleitungen angezapft und Briefe geöffnet werden, ist bald kein Geheimnis mehr. Dies zeigt das Gespräch eines Unbekannten mit dem Deutschen Generalkonsulat Zürich:

      Herr: Ich möchte an den deutschen Radiodienst in Stuttgart eine Meldung machen. Wissen Sie, ob die Briefe geöffnet werden?

      Konsulat: Das kann sein, es werden Stichproben gemacht.

      Herr: Von welcher Seite?

      Konsulat: Von beiden natürlich. (rot unterstrichen von Muri)

      Im Konsulat in Zürich ist man der schweizerischen Zensur gegenüber noch misstrauischer als in der deutschen Gesandtschaft. Anfrage an die Gesandtschaft in Bern:

      Konsulat: Frl. Stark, können Sie mir sagen, ob in der Schweiz irgend eine Verordnung besteht, als Kriegsmassnahme, wonach Briefe zensuriert werden? Ich meine, dass schweizerischerseits Briefe geöffnet werden? Wenn so etwas als Verordnung existierte, so müssten Sie es registriert haben.

      Frl. Stark: Nein, schweizerischerseits gibt’s das nicht. Wenn Briefe geöffnet werden, war das immer von der deutschen Zensur gemacht. (Dicker Strich von Pilet am Rande von Frl. Starks Antwort.)

      Pilet ist sich klar darüber, dass staatliche Schnüffelei Anlass zu scharfer Kritik geben kann. In der internen Diskussion über die Telefonabhörung hat er angemerkt:

      Wollen wir wirklich so weit gehen und vor allem wollen wir dies öffentlich bekannt geben? Was mich betrifft, würde ich dies nie tun. Diese Art von Kontrollen müssen inoffiziell und diskret bleiben, wenn man es für unerlässlich hält, sie vorzunehmen.

      Die Protokolle, die bei Pilet landen, sind fast ausschliesslich deutsch abgefasst. Die Gefahr kommt von Norden und deshalb werden die Telefonanschlüsse von deutschen Amtsstellen