»Was brauchst du?« fragte du Tillet. Ihm war es nicht unlieb, seine Schwägerin in sein Garn zu ziehen.
»Dummkopf, sagte ich dir nicht, dass wir uns unsern Männern gegenüber nicht bloßstellen wollen?« erwiderte Frau von Vandenesse mit Bedacht. Sie begriff, dass sie sich dem Manne auslieferte, dessen Charakterbild ihre Schwester ihr zum Glück entworfen hatte. »Ich werde Eugenie morgen besuchen.«
»Morgen?« wiederholte der Bankier frech. »Nein, meine Frau speist morgen bei einem künftigen Pair von Frankreich, dem Baron von Nucingen, der mir seinen Platz in der Deputiertenkammer abtritt.«
»Erlaubst du ihr nicht, meine Loge in der Oper anzunehmen?« fragte die Gräfin, ohne einen Blick mit ihrer Schwester zu tauschen; so sehr fürchtete sie, dass diese ihr Geheimnis verriete.
»Sie hat ihre eigene,« versetzte du Tillet verletzt.
»Nun, dann sehe ich sie da wieder,« entgegnete die Gräfin.
»Das wäre das erstemal, dass du uns diese Ehre erweist,« bemerkte du Tillet.
Die Gräfin fühlte den Vorwurf und begann zu lachen.
»Beruhige dich,« sagte sie. »Diesmal soll es dich nichts kosten. Lebewohl, Liebste.«
»Unverschämtheit!« schrie du Tillet und las die Blumen auf, die aus dem Haarputz der Gräfin gefallen waren. »Du müsstest dir an Frau von Vandenesse ein Muster nehmen,« sagte er zu seiner Frau. »Ich wünschte, du wärest in Gesellschaft so dreist, wie deine Schwester es eben hier war. Du hast etwas Spießiges und Albernes an dir, das mich zur Verzweiflung bringt.«
Statt jeder Antwort blickte Eugenie gen Himmel. »Nun, Madame, was habt ihr beiden denn hier getrieben?« fragte der Bankier nach einer Pause und zeigte ihr die Blumen. »Was geht vor, dass deine Schwester morgen in deine Loge kommen will?«
Die arme Sklavin brauchte die Ausrede, dass sie müde sei, und wollte hinaus, um sich auskleiden zu lassen, denn sie fürchtete ein Verhör. Da packte du Tillet seine Frau am Arme, stellte sie vor sich ins Licht der Kerzen, die in einem silbernen Armleuchter zwischen zwei köstlichen Blumensträußen brannten, und bohrte seine hellen Blicke in die seiner Frau.
»Deine Schwester war bei dir, um sich 40 000 Franken zu borgen, die ein Mann braucht, für den sie sich interessiert und der in drei Tagen wie ein Wertobjekt in der Rue Clichy hinter Schloss und Riegel sein wird,« sagte er kalt.
Die Ärmste unterdrückte ein nervöses Zittern, das sie befiel.
»Du hast mich erschreckt,« sagte sie. »Aber meine Schwester ist zu gut erzogen und liebt ihren Gatten zu sehr, um sich derart für einen Mann zu interessieren.«
»Im Gegenteil,« erwiderte er trocken. »Die Frauen, die wie ihr im Zwang und in den Pflichten der Religion erzogen sind, dürsten nach Freiheit, sehnen sich nach Glück, und das Glück, das sie wirklich haben, ist nie so groß und so schön wie das erträumte. Solche Mädchen werden schlechte Frauen.« »Rede von mir,« sagte die arme Eugenie mit bittrem Spott, »aber lass meine Schwester aus dem Spiel. Gräfin Vandenesse ist zu glücklich und ihr Gatte lässt ihr zu viel Freiheit, als dass sie nicht an ihm hinge. Wenn dein Verdacht übrigens zuträfe, hätte sie es mir nicht gesagt.«
»Es ist so,« entschied du Tillet. »Ich verbiete dir, dich irgendwie an der Sache zu beteiligen. Mir liegt daran, dass der Mensch ins Gefängnis kommt. Das lass dir gesagt sein.«
Frau du Tillet ging hinaus.
»Sie wird mir sicherlich ungehorsam sein, und wenn ich auf sie aufpasse, kann ich alles herauskriegen, was sie tun werden,« sagte du Tillet bei sich, als er allein im Boudoir blieb. »Die armen Närrinnen wollen es mit uns aufnehmen!« Er zuckte die Achseln und folgte seiner Frau, oder besser seiner Sklavin.
Die Anvertrauung, die Frau Felix von Vandenesse ihrer Schwester gemacht hatte, hing mit so vielen Einzelheiten ihres Lebens seit sechs Jahren zusammen, dass sie ohne eine kurze Darstellung seiner Hauptereignisse unverständlich wäre.
Zu den hervorragenden Menschen, die ihr Schicksal der Restaurationszeit verdankten, aber von den damaligen Machthabern zu ihrem eignen Unglück den Regierungsgeheimnissen ferngehalten wurden, gehörte neben Martignac auch Felix von Vandenesse, der mit mehreren anderen in den letzten Tagen Karls X. in die Pairskammer abgeschoben wurde. Diese Ungnade, die in seinen Augen freilich nur vorübergehend war, brachte ihn auf den Gedanken zu heiraten. Er tat es wie so viele aus Überdruss an galanten Abenteuern, den wilden Blüten der Jugend. Es kommt schließlich einmal ein Augenblick, da das menschliche Dasein in seinem ganzen Ernste erscheint. Felix von Vandenesse war abwechselnd glücklich und unglücklich gewesen, freilich öfter unglücklich als glücklich, wie alle, die die Liebe seit ihrem Eintritt in die große Welt in ihrer schönsten Gestalt kennengelernt haben. Solche bevorrechteten Wesen werden wählerisch. Wenn sie erst das Leben kennengelernt und Charakterstudien getrieben haben, begnügen sie sich mit einem Ungefähr und finden ihre Zuflucht in völliger Nachsicht. Man täuscht sie nicht mehr, denn sie lassen sich nicht mehr enttäuschen, aber sie hüllen ihre Resignation in Anmut. Da sie auf alles gefasst sind, leiden sie weniger. Immerhin konnte Felix noch für einen der hübschesten und angenehmsten Männer in Paris gelten. Etwas besonders empfahl ihn bei den Damen; das war eins jener edlen Geschöpfe dieses Zeitalters, das aus Schmerz und Liebe zu ihm gestorben sein sollte; aber seine eigentliche Bildung hatte er durch die schöne Lady Dudley erhalten. In den Augen vieler Pariserinnen verdankte Felix, der eine Art Romanheld war, mehrere Eroberungen dem Bösen, das man ihm nachsagte. Frau von Manerville hatte die Reihe seiner Abenteuer beschlossen. Ohne ein Don Juan zu sein, brachte er aus der Welt der Liebe die gleiche Enttäuschung heim, wie aus der politischen Welt. Er war daran verzweifelt, das Ideal der Frau und der Leidenschaft je wiederzufinden, nachdem ihm dessen Urbild zu seinem Unglück gestrahlt hatte. Mit dreißig Jahren beschloss Graf Felix, den Kümmernissen, die ihm seine Eroberungen bereitet hatten, durch eine Heirat ein Ende zu machen.
Eins stand bei ihm fest. Er wollte ein junges Mädchen haben, das in den strengsten Lehren des Katholizismus erzogen war. Er brauchte nur zu hören, wie die Gräfin Granville ihre Töchter erzog, um die Hand der älteren zu erbitten. Auch er hatte die Tyrannei einer Mutter erfahren. Er entsann sich noch lebhaft genug seiner grausamen Jugend, um durch die Verhüllungen des weiblichen Schamgefühls hindurch zu erkennen, was unter diesem Joch aus dem Herzen eines jungen Mädchens geworden war, ob es verbittert, verhärmt, empört, oder ob es friedfertig und liebenswürdig geblieben und bereit war, sich schönen Gefühlen zu öffnen. Die Tyrannei hat ja zwei entgegengesetzte Wirkungen, die sich in zwei großen Gestalten des antiken Sklaventums symbolisieren: Epiktet und Spartakus, Hass und schlimme Gefühle einerseits, Entsagung und christliche Liebe andrerseits. Graf Vandenesse erkannte sich selbst in Maria Angelika von Granville wieder. Als er ein naives, unschuldiges und reines Mädchen freite, hatte er als junger Greis, der er war, im voraus beschlossen, die Gefühle eines Vaters mit denen eines Gatten zu verbinden. Sein Herz war, das fühlte er, von der Welt und von der Politik ausgedörrt; er wusste, dass er für ein junges Leben die Reste eines verbrauchten Lebens in Tausch gab. Den Blumen des Frühlings wollte er das Eis des Winters gesellen, die alternde Erfahrung mit der schmucken, sorglosen Unerfahrenheit gatten. Als er sich derart über seine Stellung völlig im klaren war, bezog er die Winterquartiere der Ehe mit reichlichen Vorräten. Nachsicht und Vertrauen waren die beiden Anker, die er auswarf. Die Hausmütter sollten sich solche Männer für ihre Töchter aussuchen! Der Geist gleicht einer Schutzgottheit, die Enttäuschung ist scharfblickend wie ein Chirurg, die Erfahrung vorausschauend wie eine Mutter. Diese drei Eigenschaften sind die Kardinaltugenden der Ehe. Der gewählte Geschmack, die feinen Genüsse, die Felix von Vandenesse als eleganter Mann und Liebling der Frauen gelernt hatte, die Erfahrungen der hohen Politik, die Beobachtungen seines Lebens, das abwechselnd in Arbeit, Nachsinnen und Lektüre bestand, alle seine Kräfte dienten dazu, seine Frau zu beglücken, und er bot seinen ganzen Geist dazu auf.
So gelangte Maria Angelika aus dem mütterlichen Fegefeuer stracks in das eheliche Paradies, das ihr Felix in der Rue du Rocher eingerichtet hatte. In diesem Hause hatten die geringsten Dinge einen aristokratischen Duft, ohne dass der Firnis der guten Gesellschaft das harmonische