»Wenn mich nun aber dieser junge Mann nicht liebte?«
Diese Betrachtung war die letzte, die sie machte. Als sie in Orléans ankam, wurde ihre Postchaise von den Preußen angehalten, in den Hof einer Herberge gebracht und von Soldaten bewacht. Widerstand war unmöglich. Die Fremden erklärten den drei Reisenden durch gebieterische Zeichen, dass sie den Befehl erhalten hätten, niemand aus dem Wagen herauszulassen. Die Comtesse blieb weinend ungefähr zwei Stunden als Gefangene in dem Wagen, der von den rauchenden, lachenden Soldaten, die sie ab und zu mit zudringlicher Neugier betrachteten, umringt war; doch schließlich hörte sie das Geräusch von Pferdehufen und sah, wie sich die Soldaten respektvoll vom Wagen entfernten. Gleich darauf umringte eine Anzahl ausländischer höherer Offiziere, an deren Spitze ein österreichischer General, die Kutsche.
»Madame«, sagte der General, »nehmen Sie unsere Entschuldigung entgegen, es war ein Irrtum; Sie können unbehelligt Ihre Reise fortsetzen, und hier ist ein Pass, der Ihnen weitere Belästigungen ersparen wird ...«
Die Comtesse nahm das Papier zitternd entgegen und stammelte verlegene Worte. Sie erblickte neben dem General in englischer Offiziersuniform Arthur, dem sie offenbar ihre rasche Befreiung zu verdanken hatte. Erfreut und traurig zugleich wandte sich der junge Engländer ab und wagte Julie nur verstohlen anzusehen. Mit Hilfe des Passes langte Madame d'Aiglemont ohne weitere Zwischenfälle in Paris an. Sie traf dort ihren Mann wieder, der von seinem Treueid gegen den Kaiser entbunden und von dem Comte d'Artois, den sein Bruder Ludwig XVIII. zum Generalstatthalter des Königreichs ernannt hatte, aufs schmeichelhafteste empfangen worden war. Victor erhielt einen hohen Rang in der Leibgarde und den Generalstitel. Inmitten der Feste, die die Rückkehr der Bourbonen feierten, wurde die arme Julie von einem tiefen Unglück, das auf ihr ganzes Leben Einfluss haben sollte, betroffen: sie verlor die Marquise de Listomère-Landon. Die alte Dame starb an der Freude und an einer Gicht, die aufs Herz geschlagen war, als sie in Tours den Duc d'Angoulême wiedersah. So war die Frau, die kraft ihres Alters das Recht gehabt hätte, Victor Vorstellungen zu machen, die einzige, die durch kluge Ratschläge ein besseres Einvernehmen zwischen Mann und Frau hätte herstellen können, dahingegangen, und Julie fühlte die ganze Tragweite dieses Verlustes. Sie war nun allein mit sich und ihrem Mann. Aber jung und zaghaft, wie sie war, verlegte sie sich zunächst auf das Dulden, anstatt zu klagen. Die Vornehmheit ihres Charakters verhinderte es ja eben, dass sie sich ihren Pflichten entzog oder nach der Ursache ihrer Leiden forschte; denn sie zu einem Ende zu bringen wäre eine zu delikate Sache gewesen: Julie hätte gefürchtet, gegen ihre mädchenhafte Schamhaftigkeit zu verstoßen.
Ein Wort über die Geschicke des Monsieur d'Aiglemont unter der Restauration.
Gibt es nicht viele Menschen, deren innere Nichtigkeit den meisten, die sie kennen, verborgen bleibt? Ein hoher Rang, eine illustre Abstammung, wichtige Ämter, ein gewisser weltmännischer Schliff, eine betonte Zurückhaltung im Benehmen oder das Blendwerk des Reichtums sind für sie Schutzmauern, die es verhindern, dass die Kritik bis zu ihrer eigentlichen Existenz vordringt. Diese Leute gleichen den Königen, deren wirkliche Beschaffenheit, Charakter und Sitten niemals wirklich gekannt und richtig beurteilt werden können, weil sie von zu weit oder von zu nahe gesehen werden. Solche Personen von trügerischem Verdienst fragen, anstatt zu reden, verstehen die Kunst, den andern eine Rolle zu geben, um nicht selbst vor ihnen hervortreten zu müssen; dann ziehen sie mit glücklicher Gewandtheit einen jeden am Draht seiner Begierden und Interessen, treiben ihr Spiel mit Männern, die ihnen in Wahrheit überlegen sind, machen Marionetten aus ihnen und halten sie für klein, weil sie sie bis zu sich herabgezogen haben. Ihre armselige, aber feststehende Denkweise erlangt dann einen Sieg über die Beweglichkeit der großen Gedanken. Um diese Hohlköpfe zu beurteilen und ihren negativen Wert abzuschätzen, muss der Beobachter einen mehr scharfsinnigen als überlegenen Geist haben, mehr Geduld als Weite des Blickes, mehr Schlauheit und Takt als Größe und Erhabenheit in den Ideen entfalten. Jedoch so viel Geschicklichkeit diese Usurpatoren auch anwenden, um ihre schwachen Seiten zu verteidigen, so ist es ihnen sehr schwer, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen. Nur dass diese Personen ihnen das Geheimnis meistens bewahren, weil es gewissermaßen ihre gemeinsame Ehre angeht, ja sie helfen noch dabei, der Welt etwas vorzumachen. Wenn nun, dank dieser häuslichen Verschwörungen, viele dumme Tröpfe als bedeutende Männer gelten, so gibt es anderseits eine Anzahl bedeutender Männer, die für dumme Tröpfe gehalten werden, so dass der Staat immer die gleiche Menge anscheinend fähiger Köpfe hat. Man bedenke nun, was für eine Rolle eine Frau von Geist und Gemüt neben einem Manne dieser Art spielen muss; wird man da nicht leidvoller Existenzen gewahr, die sich aufopfern und deren liebeerfüllte Herzen voller Zartgefühl sich durch nichts in dieser Welt entschädigen lassen können? Wenn ein starkes Weib sich in solch schrecklicher Lage befindet, so befreit es sich daraus durch ein Verbrechen, wie Katharina II., die nichtsdestoweniger die Große genannt wurde. Aber da nicht alle Frauen auf dem Thron sitzen, so nehmen sie zum größten Teil ihr häusliches Unglück auf sich, das nicht weniger schrecklich ist, weil es im Verborgenen bleibt. Diejenigen, welche für ihr Ungemach einen sofortigen Trost hienieden suchen, tauschen häufig nur das eine Leiden gegen ein anderes ein, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, oder sie machen sich einer Verfehlung schuldig, wenn sie zugunsten ihrer Freuden die Gesetze verletzen. Diese Betrachtungen sind alle auf Julies heimliche Geschichte anwendbar. Solange Napoleon an der Macht war, erregte der Comte d'Aiglemont keinen Neid. Er war ein Oberst wie so viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, eignete sich vorzüglich, gefährliche Missionen auszuführen, war jedoch unfähig, ein Kommando von irgendwelcher Bedeutung zu übernehmen; er galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst schenkte, und war, was man beim Militär gewöhnlich einen braven Burschen nennt. Die Restauration, die ihm den Titel ›Marquis‹ zurückgab, fand ihn nicht undankbar: er folgte den Bourbonen nach Gent. Dieser Akt der Logik und Treue strafte die Prophezeiung Lügen, die ihm sein Schwiegervater seinerzeit gemacht hatte, als er sagte, er würde sein Leben lang Oberst bleiben. Als Monsieur d'Aiglemont bei der zweiten Rückkehr zum Generalleutnant ernannt und wieder Marquis geworden war, hatte er den Ehrgeiz, nach der Pairswürde zu streben. Er nahm die Grundsätze und die Politik des ›Conservateur‹ an, hüllte sich in eine Verstellung, hinter der nichts steckte, setzte eine bedeutsame Miene auf, verlegte sich aufs Fragen, sprach wenig und wurde für einen tiefsinnigen Menschen gehalten. Da er sich stets hinter höflichen Phrasen verschanzt hielt, mit leeren Floskeln reich versehen war, mit Schlagworten um sich warf, die in Paris regelmäßig geprägt werden, um den Sinn der großen Ideen und Tatsachen in kleiner Münze an die Dummen auszugeben, wurde ihm in der Gesellschaft der Ruf eines Mannes von Geschmack und Wissen zuteil. Da er eigensinnig auf seinen aristokratischen Anschauungen beharrte, wurde er als ein fester Charakter gepriesen. Wurde er zufällig einmal wie früher harmlos und lustig, so hielten die anderen seine albernen und unbedeutenden Äußerungen für verborgene diplomatische Anspielungen.
›Oh! er sagt nur, was er sagen will‹, dachten brave biedere Leute. Seine guten Eigenschaften wie seine Fehler kamen ihm gleicherweise zustatten. Seine Tapferkeit hatte ihm einen hohen militärischen Ruf verschafft, der in nichts widerlegt wurde, da er ja nie ein Oberkommando geführt hatte. Sein männliches, distinguiertes Aussehen ließ auf kühne Gedanken schließen, und seine Physiognomie war nur für seine Frau eine glatte Täuschung. Indem alle Welt die Pseudotalente des Marquis d'Aiglemont bewunderte, kam dieser schließlich selbst zu der Überzeugung, dass er einer der bemerkenswertesten Männer des Hofes sei. Und wirklich wurden dort, wo er dank seiner äußeren Erscheinung zu gefallen wusste, seine verschiedenen Vorzüge ohne Widerspruch anerkannt.
Trotz alldem war Monsieur d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war, und aus diesem unwillkürlichen Respekt erwuchs eine heimliche Macht, zu deren Annahme sich die Comtesse gezwungen sah, obwohl sie die Last gern von sich abgewälzt hätte. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie seine Handlungen und seine Geschäfte. Dieser ungewollte Einfluss war für sie eine Quelle der Demütigung und vieler Schmerzen, die sie in ihrem Innern verschloss. Ihr zarter, weiblicher Instinkt sagte ihr, dass es weit schöner ist, einem Mann von Geist zu gehorchen, als einen Dummkopf zu leiten, und dass eine junge Gattin, die genötigt ist, als Mann zu denken und zu handeln, weder