»Nun wundere ich mich nicht mehr, weder über ihren Zorn noch über ihr Ungestüm, da du hier Dienst tatest«, sagte der alte Herr mit einem Ton, der zugleich ernst und neckend war.
»Monsieur, wenn Sie einen guten Platz haben wollen«, antwortete der junge Mann, »dürfen wir jetzt nicht plaudern. Der Kaiser liebt es nicht zu warten, und ich bin vom Großmarschall zur Meldung befohlen.«
Während er sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit Julies Arm genommen und sie hastig zum Carrousel hin fortgezogen. Julie sah erstaunt, wie sich eine endlose Menge in den kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des Palastes und den von Ketten gezogenen Schranken, mit denen man inmitten des Hofes der Tuilerien große sandbestreute Vierecke abgegrenzt hatte, drängte. Die Postenkette, die den Weg für den Kaiser und seinen Generalstab freihalten sollte, hatte die größte Mühe, die erwartungsvolle, wie ein Bienenschwarm surrende Menge nicht durchbrechen zu lassen.
»Es wird wohl sehr schön werden?« fragte Julie mit einem Lächeln. »Geben Sie doch acht!« rief der Offizier und fasste sie um die Taille, sie mit ebensoviel Kraft wie Schnelligkeit neben einer Säule in Sicherheit zu bringen.
Ohne diese rasche Entführung wäre seine neugierige Verwandte von der Kruppe eines Schimmels gequetscht worden. Dieses Pferd, das einen goldgewirkten grünen Samtsattel trug, wurde von dem Mamelucken Napoleons unmittelbar am Torbogen zehn Schritt hinter den übrigen Pferden, welche auf die hohen Offiziere warteten, die dem Kaiser zur Gefolgschaft dienten, am Zügel gehalten. Der junge Mann wies dem Vater und der Tochter neben der ersten Schranke, rechts vor der Menge, ihren Platz an und empfahl sie mit einer Kopfbewegung den beiden alten Grenadieren, zwischen denen sie standen. Als der Offizier sich wieder dem Palast zuwandte, war der Schreck, den ihm das Zurückweichen des Pferdes verursacht hatte, auf seinem Gesicht einem Ausdruck von Glück und Freude gewichen. Julie hatte ihm geheimnisvoll die Hand gedrückt, sei es, um ihm für den kleinen Dienst zu danken, sei es, um ihm zu sagen: ›Endlich sehe ich Sie also wieder!‹ Sie hatte sogar in Erwiderung des respektvollen Grußes, mit dem sich der Offizier vor seinem eiligen Verschwinden von ihr und ihrem Vater verabschiedete, sanft den Kopf geneigt. Der alte Herr, der die beiden jungen Leute absichtlich sich selbst überlassen zu haben schien, hielt sich in tiefstem Ernst dicht hinter seiner Tochter; doch beobachtete er sie heimlich und suchte ihr eine trügerische Sicherheit zu verleihen, indem er tat, als sei er von dem Anblick des prächtigen Schauspiels, den die Place du Carrousel bot, ganz hingerissen. Als Julie ihren Vater ängstlich wie ein Schüler seinen Lehrer anblickte, antwortete er ihr sogar mit einem heiter gütigen Lächeln; aber sein scharfes Auge war dem Offizier bis unter die Arkade gefolgt, und keine Einzelheit dieser flüchtigen Szene war ihm entgangen.
»Welch schönes Schauspiel!« sagte Julie leise und drückte ihrem Vater die Hand.
Der malerische und großartige Anblick, den das Carrousel in diesem Augenblick bot, entlockte denselben Ausruf Tausenden von Zuschauern, die alle vor Bewunderung in regloser Verzückung dastanden. Eine Menschenmasse, ebenso dichtgedrängt wie die, in der sich der Greis und seine Tochter befanden, stand in einer geraden Linie dem Schloss gegenüber auf dem engen, gepflasterten Raum, der am Gitter des Carrousels entlangläuft. Diese Menge brachte mit der Buntheit ihrer Damentoiletten das riesenhafte Rechteck, das die Gebäude der Tuilerien und das damals neuerrichtete Gitter bildeten, erst vollends zur Geltung. Die Regimenter der alten Garde, welche Revue passieren sollten, füllten den mächtigen Platz und bildeten dem Palast gegenüber zehngliedrige imposante blaue Linien. Parallel zu diesen hatten sich jenseits der Absperrung, im Carrousel, mehrere Infanterie- und Kavallerieregimenter formiert, bereit, durch den Triumphbogen zu defilieren, der die Mitte des Gitters ziert und auf dessen Spitze man zu jener Zeit noch die wundervollen venezianischen Pferde sah. Die Regimentskapellen, die unter den Galerien des Louvre postiert waren, wurden von den diensttuenden polnischen Ulanen verdeckt. Ein großer Teil des sandbestreuten Karrees blieb leer, wie eine für den Aufmarsch dieser lautlosen Marschblöcke vorbereitete Arena. Die mit militärischer Kunst symmetrisch verteilten Massen fingen die Strahlen der Sonne in den blitzenden dreieckigen Spitzen von zehntausend Bajonetten auf. In dem leichten Wind bewegten sich die Federbüsche der Soldaten wie die Bäume des Waldes unter einem heftigen Sturm. Diese alten Truppen boten schweigsam und glänzend in der Mannigfaltigkeit ihrer Uniformen, der Aufschläge, Waffen und Achselschnüre tausend Farbkontraste. Das riesenhafte Gemälde, das Miniaturbild eines Schlachtfeldes vor der Schlacht, mit all seinen Requisiten und bizarren Erscheinungen, wurde von den hohen, majestätischen Gebäuden, deren starre Ruhe sich auf die Offiziere und Soldaten zu übertragen schien, poetisch eingerahmt. Der Zuschauer verglich unwillkürlich die Mauern der Menschen mit den Mauern aus Stein. Die Frühlingssonne breitete verschwenderisch ihr Licht wie über die weißen, neuerbauten Mauern so über die schon jahrhundertealten und erhellte mit ihrer Strahlenfülle jene unzähligen wettergebräunten Gesichter, die alle von überstandenen Gefahren zeugten und die zukünftigen erst erwarteten. Die Obersten jedes Regiments schritten einzeln die Fronten dieser heldenmütigen Männer ab. Hinter den Massen der in Silber, Himmelblau, Purpur und Gold schimmernden Truppen konnten die Neugierigen die dreifarbigen Wimpel an den Lanzen von sechs unermüdlichen polnischen Reitern erkennen. Diese galoppierten, Hunden gleich, die eine Herde durch das Feld treiben, unaufhörlich zwischen den Truppen und den Zuschauern hin und her, um die letzteren daran zu hindern, den winzigen Raum, der ihnen neben dem kaiserlichen Gitter zugebilligt war, zu überschreiten. Abgesehen von diesem Hin und Her hätte man sich in Dornröschens Schloss versetzt glauben können. Der Frühlingswind, der über die langhaarigen Bärenfellmützen der Grenadiere strich, ließ die Unbeweglichkeit der Soldaten sichtbar werden, gleichwie das dumpfe Murmeln der Menge ihr Schweigen noch stärker hervorhob. Nur zuweilen erklang ein Schellenbaum oder ein versehentlicher leichter Schlag gegen eine große Trommel, den das Echo des kaiserlichen Palastes zurückwarf, was dem fernen Grollen des Donners bei einem aufziehenden Gewitter glich. Eine unbeschreibliche Begeisterung brodelte in der erwartungsvollen Menge. Frankreich schickte sich an, Napoleon am Vorabend eines Feldzugs, dessen Gefahren von dem einfachsten Bürger vorausgesehen werden konnten, Lebewohl zu sagen. Diesmal ging es um Sein oder Nichtsein des französischen Kaiserreichs. Dieser Gedanke schien Zuschauer wie Militärs zu bewegen, die sich gleicherweise schweigend in dem Umkreis zusammendrängten, über dem der Adler und das Genie Napoleons schwebten. Diesen Soldaten, der Hoffnung Frankreichs, diesen Soldaten, Frankreichs letzten Blutstropfen, galt vor allem die unruhige Neugier der Zuschauer. Die Mehrzahl der Anwesenden und der Soldaten sagten sich vielleicht auf ewig adieu. Alle Herzen aber, selbst die dem Kaiser feindlich gesinnten, richteten glühende Wünsche für den Ruhm des Vaterlandes zum Himmel. Selbst jene Männer, die des Kampfes, der sich zwischen Europa und Frankreich entsponnen hatte, ganz und gar müde waren, hatten ihren Hass abgetan, als sie durch den Triumphbogen zogen, wohl wissend, dass am Tag der Gefahr Napoleon ganz Frankreich war. Die Schlossuhr schlug halb eins. In diesem Augenblick verstummte das Surren der Menge, und die Stille wurde so tief, dass man das Wort eines Kindes hätte hören können. Da vernahmen der Greis und seine Tochter, die nur ganz Auge waren, das Klirren von Sporen und ein Rasseln von Säbeln, das unter dem hohen Säulengang des Schlosses laut widerhallte.
Ein kleiner, ziemlich fetter Mann, in hohen Reitstiefeln, mit einer grünen Uniform und einer weißen Hose bekleidet, erschien plötzlich, auf dem Kopf einen Dreimaster, der ebenso seltsam war wie der Mann selbst; das breite rote Band der Ehrenlegion flatterte auf seiner Brust, ein kleiner Degen hing an seiner Seite. Der Mann konnte von allen Augen und von allen Punkten des Platzes aus gleichzeitig gesehen werden. Sogleich schlugen die Trommeln den Fahnenmarsch, die beiden Orchester spielten einen Satz, dessen kriegerisches Thema von allen Instrumenten, von der zarten Flöte bis zur großen Trommel, aufgegriffen wurde. Bei diesem Kampfsignal erbebten alle Herzen; die Fahnen grüßten, die Soldaten präsentierten