»Sie haben hier Millionen!« rief der junge Mann, als er im letzten Raum einer ungeheuren Zimmerflucht angelangt war, die von Künstlern des vorigen Jahrhunderts vergoldet und mit reicher Schnitzarbeit versehen waren.
»Sagen Sie lieber Milliarden«, erwiderte der pausbäckige junge Mann. »Aber dies hier ist noch gar nichts; kommen Sie erst in das dritte Stockwerk, dann werden Sie sehen.«
Der Unbekannte folgte seinem Führer und gelangte in eine vierte Galerie, wo an seinen ermüdeten Augen in gedrängter Folge Gemälde von Poussin vorüberzogen, eine herrliche Statue von Michelangelo, einige entzückende Landschaften von Claude Lorrain, [* Claude Lorrain, auch Le Lorrain (1600-1682): französischer Maler, Meister der Landschaftsmalerei] ein Gérard Dou, [* Gérard Dou, auch Dow (1613-1675): niederländischer Genremaler] der wie eine Szene von Sterne anmutete, Rembrandts, Murillos, [* Murillo, Bartolomé Esteban (1617-1682): spanischer Maler, der neben Madonnen- und Heiligenbildern auch realistische Genreszenen schuf] Velasquez', [* Velasque, Diego (1599-1660): spanischer Hof- und Porträtmaler] düster und farbenreich wie ein Poem von Lord Byron, [*Byron, George Noël Gordon, Lord (1788-1824): englischer romantischer Dichter, nahm aktiv an der Carbonari-Verschwörung und am griechischen Freiheitskampf teil] überdies antike Basreliefs, Achatkelche, seltene Onyxe! ... Kurzum, es waren Arbeiten, die einem die Arbeit verleiden konnten, Kunstwerke in solcher Unzahl, dass sie einem Widerwillen gegen die Kunst einflößen und die Begeisterung töten mussten. Er stand vor einer Madonna von Raffael, aber er war Raffaels überdrüssig. Selbst für eine Figur von Correggio [* Correggio, Antonio (1489-1534): italienischer Maler, Meister des Helldunkel] hatte er nicht einmal mehr den Blick, den sie erheischte. Eine antike Porphyrvase von unschätzbarem Wert, deren rundumlaufendes Relief die grotesk-unzüchtigste aller römischen Priapeen darstellte und einstmals irgendeine Corinna höchlichst ergötzte, entlockte ihm kaum ein Lächeln. Er erstickte unter den Trümmern fünfzig entschwundener Jahrhunderte, er war krank von all diesem menschlichen Gedankengut, erschlagen von Pracht und Kunstwerken, erdrückt von diesen ständig neu erwachsenden Formen, die, wie die Ausgeburten eines boshaften Geistes, unablässig aus dem Boden schossen und ihn in einen schier endlosen Kampf verstrickten.
Braut die Seele, die in ihrer Veränderlichkeit der modernen Chemie gleicht, welche die Schöpfung von einem Gas ableitet, durch die rasche Konzentration ihrer Genüsse, ihrer Kräfte oder ihrer Ideen nicht schreckliche Gifte? Sterben viele Menschen nicht an einer moralischen Säure, die sich plötzlich über ihr Inneres ergießt?
»Was ist denn in diesem Kasten?« fragte er, als er in ein großes Kabinett trat, eine letzte Schatzkammer, die Herrlichkeit, Meisterwerke aus Menschenhand, Kuriositäten und Reichtümer, in Fülle enthielt, und deutete auf einen großen viereckigen Mahagonischrein, der mit einer silbernen Kette an einem Nagel hing.
»Oh, Monsieur allein hat den Schlüssel dazu«, sagte der dicke Bursche geheimnisvoll. »Wenn Sie das Porträt zu sehen wünschen, werde ich es wagen, Monsieur davon in Kenntnis zu setzen.«
»Es wagen!« sagte der junge Mann. »Ist Ihr Herr ein Fürst?«
»Schon möglich«, antwortete der Bursche.
Sie sahen sich einen Augenblick an, der eine so erstaunt wie der andere. Der Lehrling deutete das Schweigen des Unbekannten als unausgesprochenen Wunsch und ließ ihn in dem Kabinett allein.
Hast du dich jemals bei der Lektüre der geologischen Werke von Cuvier [* Cuvier, Georges, Baron (1769-1832): Begründer der modernen Paläontologie und vergleichenden Anatomie, verteidigte die metaphysische Auffassung von der Unabänderlichkeit der biologischen Arten] in die Unendlichkeit von Raum und Zeit geschwungen? Hast du, getragen von seinem Genie, wie von der Hand eines Zauberers, über dem grenzenlosen Abgrund der Vergangenheit geschwebt? Wenn wir die Erde Scholle für Scholle und Schicht für Schicht abtragen und unter den Steinbrüchen des Montmartre oder in den Schiefergebirgen des Ural die fossilen Reste von Tieren entdecken, die vorsintflutlichen Zivilisationen angehören, wie muss die Seele da erschrecken, wenn sie sich vorstellt, dass Milliarden Jahre vergangen sind, Millionen Völker gelebt haben, die von dem schwachen menschlichen Gedächtnis und der starren religiösen Tradition vergessen worden sind und deren Asche die Oberfläche unseres Erdballs bildet, die zwei Fuß Boden, woraus uns Brot und Blumen wachsen? Ist nicht Cuvier der größte Dichter unseres Jahrhunderts? Lord Byron hat wohl ein paar seelische Erschütterungen vortrefflich in Worte gebannt; aber unser unsterblicher Forscher hat aus gebleichten Knochen Welten wiedererstehen lassen, hat, wie Kadmos, [* Kadmos: Gestalt der griechischen Mythologie, säte die Zähne eines von ihm getöteten Drachens, aus denen Krieger wuchsen, mit denen er die Stadt Theben gründete] mit Zähnen Städte neu erbaut, hat mit einigen Brocken Kohle tausend Wälder mit allen Geheimnissen der Tierwelt wieder lebendig werden lassen, hat am Fuß eines Mammuts erkannt, dass Völker von Riesen gelebt haben. Diese Gestalten ragen auf, wachsen und füllen Regionen, die ihrer kolossalen Größe entsprechen. Er ist Dichter mit Zahlen, er ist erhaben, wenn er eine Null neben eine Sieben setzt. Er erweckt das Nichts, ohne magische Worte zu drechseln. Er untersucht ein Stück Kalk, bemerkt einen Abdruck und ruft: ›Seht her!‹ Alsbald wandelt sich der Stein zum Tier, der Tod zum Leben, die Welt entrollt sich. Nach unzähligen Geschlechtern gigantischer Kreaturen, nach Reihen von Fisch- und Molluskenarten kommt endlich die Gattung Mensch, degenerierter Nachkömmling eines grandiosen Typus, der vielleicht vom Schöpfer zertrümmert worden ist. Von dem rückwärtsschauenden Blick des Forschers angefeuert, können diese kümmerlichen, gestern geborenen Menschen das Chaos überschreiten, einen endlosen Hymnus anstimmen und sich die Ursprünge des Weltalls in einer Art rückläufiger Apokalypse vergegenwärtigen. Angesichts dieser ungeheuren Auferstehung, von der Stimme eines einzigen Menschen beschworen, muss uns das Quentchen, das uns in dem namenlosen, allen Sphären gemeinsamen Unendlichen, das wir ›die Zeit‹ benannt haben, zur Nutzung gewährt ist, muss diese Minute Leben uns zum Erbarmen gering erscheinen. Von so vielen verfallenen Welten niedergedrückt, fragen wir uns, wozu unser Ruhm, unser Hass, unsere Liebe nütze sind; ob wir die Mühe, zu leben, auf uns nehmen müssen, um ein nicht fassbarer Punkt in der Zukunft zu werden? Losgelöst von der Gegenwart, sind wir tot bis zu dem Augenblick, da unser Kammerdiener eintritt und meldet: ›Madame la Comtesse lässt ausrichten, dass sie Monsieur erwartet.‹
Die Wunder, die dem jungen Mann die ganze bekannte Schöpfung vor Augen geführt hatten, versetzten ihn in die tiefe Niedergeschlagenheit, die den Philosophen bei der wissenschaftlichen Sichtung unbekannter Schöpfungen befällt. Lebhafter denn je wünschte er zu sterben. Er sank auf einen kurulischen Stuhl und ließ seine Blicke über das Blendwerk dieses Panoramas der Vergangenheit schweifen. Die Gemälde leuchteten auf, die Köpfe der Madonnen lächelten ihn an, und die Statuen färbten sich mit einem trügerischen Schein des Lebens. Im Schutz des Dunkels, vom gärenden Fieber seines gepeinigten Hirns in Tanz gesetzt, regte sich alles und umwirbelte ihn; jeder Porzellanaffe schnitt ihm eine Grimasse, die Gestalten auf den Bildern schlossen die Lider, um die Augen auszuruhen. Jedes dieser Geschöpfe taumelte, hüpfte, löste sich von seinem Platz, schwerfällig oder leichtfüßig, anmutig oder ungestüm, je nach seinen Sitten, seinem Charakter oder seinem Umfeld. Es war ein geheimnisvoller Sabbat, würdig der phantastischen Erscheinungen, die Doktor Faust auf dem Brocken sah. Aber diese optischen Täuschungen, die von Erschöpfung, Überanstrengung der Sehnerven und dem verwirrenden Dämmerlicht herrührten, konnten dem Unbekannten keine Angst einjagen. Die Schrecken des Lebens vermochten nichts über eine mit den Schrecken des Todes vertraute Seele. Mit einer gewissen spöttischen Komplizenschaft unterstützte er sogar die Trugbilder dieses von seinem Geist eingehauchten Lebens, dessen Seltsamkeiten sich zu den letzten Gedanken gesellten, die ihm noch das Gefühl des Daseins gewährten. Es herrschte so vollkommene Stille um ihn, dass er sich einer sanften Träumerei überließ, deren Stimmungen sich wie durch Zauber Ton für Ton in dem Grade verfinsterten, wie das Licht entschwand. Bevor der Tag sank, ließ er im Widerstreit mit der Nacht ein letztes Mal den Himmel rot erglühen; der junge Mann blickte auf und sah ein kaum wahrnehmbares Skelett, das zweifelnd mit dem Schädel wackelte, als wollte es sagen: ›Die Toten wollen noch nichts von dir wissen!‹ Als er, um den Schlaf