Aus all diesen Menschen ragt Zarathustra unverwechselbar heraus. Er ist als einziger nicht lebensfeindlich, für das Leben. Sein Gott steckt nicht sonstwo, sein Gott ist nichts weiter als ein anderer Name für das Leben selbst. Nur darauf beruht alle Religion: total zu leben und voller Freuden zu leben, so intensiv wie möglich zu leben. Mich verbindet eine tiefe Wahlverwandtschaft mit Zarathustra. Aber vielleicht fand er ja nur deshalb nicht viele Anhänger, weil er lebensbejahend und nicht lebensverneinend war. Dies gehört zu den seltsamen Zügen des Menschen – dass er alles, was leichtfällt, nicht genug schätzt, um es sich zum Ziel zu setzen. Sein Ziel muss schwer und hart sein! Dahinter steckt unser Egoismus, das Ego will immer das Unmögliche. Denn nur mit dem Unmöglichen kann es überhaupt existieren. Du wirst nie dein Verlangen erfüllen können, aber das Ego wird dich immer mehr in diese Richtung treiben – mehr Gier, mehr Macht, mehr Geld, mehr Härte, mehr Spiritualität, mehr Disziplin. Bedenkt, wo immer ihr dem „mehr“ begegnet, hört ihr die Sprache des Ego. Und man kann das Ego unmöglich zufriedenstellen: Es fordert immerzu mehr.
Der ganze Ansatz Zarathustras gleicht dem Tschuangtses: „Leicht ist richtig. Richtig ist leicht.“ Erst wenn du vollkommen entspannt bist, dich wohl und zu Hause fühlst – so entspannt, dass du sogar vergessen hast, wie wohl du dich fühlst, dass du vergessen hast, wie richtig du liegst, und du so unschuldig geworden bist wie ein Kind – bist du angekommen. Aber das interessiert das Ego nicht. Dieser ganze Prozess ist eine Art Selbstmord des Ego. Und so ist es zu erklären, dass ausgerechnet diejenigen Religionen, die dem Ego schwierige Aufgaben, unbezwingbare Wege, unnatürliche Ideale empfohlen haben, Millionen von Menschen an sich gezogen haben.
Zarathustras Anhänger kann man an den Fingern abzählen. Und so hat natürlich kein Hahn nach Zarathustra gekräht. Erst nahezu vierundzwanzig Jahrhunderte später fand plötzlich Nietzsche etwas an Zarathustra. Er war gegen Jesus Christus und er war gegen Gautam Buddha; aber er war für Zarathustra. Das zu verstehen ist ausgesprochen wichtig.
Wieso war derselbe Mann, der gegen Jesus Christus war, der gegen Gautam Buddha war – für Zarathustra? Weil Nietzsche dieselbe Einstellung, denselben Lebensansatz hat. Er hat gesehen, dass all diese Religionen, diese großen Religionen, immer nur noch mehr Schuldgefühle erzeugen, die Menschheit immer nur noch mehr ins Unglück stürzen, Kriege anzetteln und andere bei lebendigem Leibe verbrennen, dass sie allen möglichen Unsinn reden, für den sie keinerlei Beweise oder Anhaltspunkte haben; dass sie die ganze Menschheit in Dunkelheit und Blindheit leben lassen. Denn ihre Lehren verlangen Glauben. Und Glaube ist Blindheit.
Jeder Glaube ist blind. Denn ein Mensch mit Augen glaubt nicht, dass es Licht gibt, er weiß es. Er braucht es nicht zu glauben. Nur der Blinde glaubt an das Licht, das er nicht kennt. Glaube setzt Unwissenheit voraus. Und weil alle Religionen, außer ein paar Ausnahmen wie Zarathustra und Tschuangtse, die weder große Anhängerschaften finden noch große Traditionen stiften konnten – allesamt Glauben verlangen, mit anderen Worten Blindheit verlangen. Nietzsche hasste sie. Sein Symbol für den Osten war Gautam Buddha, sein Symbol für den Westen war Jesus Christus.
Gegen diese Leute war er – aus dem einfachen Grund, weil sie lebensfeindlich waren, und weil sie gegen alle Menschen waren, die sich mit einfachen Dingen begnügten, Menschen, die spielerisch leben, die lachen, Menschen, die Sinn für Humor haben, statt tierischen Ernst, Menschen, die gern singen und musizieren, und Menschen, die gern tanzen und lieben. Nietzsche fühlte sich von Zarathustra angezogen, weil er als einziger erkannte, dass in der gesamten Geschichte nur dieser eine Mann nicht gegen das Leben war, nicht gegen die Liebe war, nicht gegen das Lachen war. In diesen Passagen werdet ihr ungeheuer bedeutsame Aussagen finden, und sie können die Grundlage für eine lebensbejahende Religion werden.
Ich bin absolut für das Leben. Es gibt nichts, wofür man das Leben opfern darf. Wohl aber darf man alles für das Leben opfern. Alles darf Mittel zum Zweck des Lebens sein, aber das Leben ist ein Zweck in sich. Hört genau zu, denn Friedrich Nietzsche schreibt in sehr komprimierter Form. Er ist kein Prosaiker. Er schreibt in Aphorismen. Wo andere ein ganzes Buch geschrieben hätten, schreibt Nietzsche nur einen Absatz. So gedrängt ist sein Stil, dass man ihn leicht missversteht, wenn man ihm nicht sehr genau zuhört. Man darf ihn nicht wie einen Roman lesen. Diese Passagen sind fast so gedrängt wie die Sutras der Upanishaden. In jedem einzelnen Sutra, jedem einzelnen Aphorismus steckt so viel, so viele Nebenbedeutungen … und ich möchte gern auf all diese Feinheiten eingehen, damit ihr Nietzsche nicht missversteht; denn er ist einer der missverstandensten Philosophen der Welt. Und der Grund, warum er missverstanden wurde, war der, dass er einen so komprimierten Stil hatte. Er hat nie erklärt, er ging nie detailliert auf alle denkbaren Nebenbedeutungen ein.
Er ist ein Mann der Symbole; und er ist deshalb so symbolhaft, weil er so zum Bersten voll von neuen Einsichten war, dass er nicht genug Zeit hatte zum erklären oder Abhandlungen zu schreiben. Es gab so viel mitzuteilen und zu geben … und das Leben ist so kurz. Aber da er sich dermaßen komprimiert und kristallisiert ausdrückte, verstanden ihn erstens die meisten gar nicht und zweitens missverstanden ihn die wenigen, die ihn verstanden. Drittens fanden sie ihn unlesbar. Sie wollten alles erklärt haben, und Nietzsche schrieb nicht für Kinder. Er schrieb für reife Menschen. Aber Reife ist etwas sehr Seltenes – bei einem geistigen Durchschnittsalter des Menschen von kaum mehr als vierzehn Jahren!
Bei einer solchen „geistigen Reife“ verkennt man Nietzsche mit Sicherheit. Seine Gegner verkennen ihn, seine Anhänger verkennen ihn. Denn alle sind unreif.
Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge.
Ihr müsst wissen, dass Gautam Buddha, als er neunundzwanzig Jahre alt war, seinen Palast verließ. Jesus begann zu lehren, als er dreißig Jahre alt war. Zarathustra ging ins Gebirge, als er dreißig Jahre alt war. Denn mit dem Alter so um die Dreißig herum hat es so seine Bewandtnis; genauso wie man mit vierzehn sexuell reif wird … Wenn wir einmal von einem normalen Durchschnittsleben von siebzig Jahren ausgehen, dann kommt es alle sieben Jahre – das haben diejenigen entdeckt, die das Leben bis in die Wurzeln erforscht haben – zu einer Veränderung, einem Wendepunkt.
Die ersten sieben Jahre sind unschuldig. Die zweiten sieben Jahre ist man vor allem damit beschäftigt viel zu lernen und neugierige Fragen zu stellen. Vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahr tritt die Sexualität in den Vordergrund. Ihren absoluten Höhepunkt erreicht die Sexualität, ihr werdet staunen, bei ca. achtzehn oder neunzehn Jahren. Und die Menschheit hat seit je her alles unternommen, um diese Phase zu umgehen – mithilfe von Erziehungsprogrammen, Hochschulen, Universitäten und indem man Jungen und Mädchen getrennt hielt. Dabei ist genau das die Zeit, da ihre Sexualität und ihre sexuelle Energie zum Höhepunkt kommt.
In diesen sieben Jahren, von vierzehn bis einundzwanzig, hätten sie ohne weiteres die Erfahrung des sexuellen Orgasmus machen können. Und der sexuelle Orgasmus ist ein Lichtblick, der den Drang nach seligeren Reichen in euch wecken kann; denn im sexuellen Orgasmus verschwinden zwei Dinge: Erstens das Ego, und zweitens das Denken – und für ein paar Sekunden steht die Zeit still. Aber diese drei Dinge sind die wesentlichen. Zwei Dinge verschwinden völlig: Du bist kein Ich mehr. Du bist zwar noch da, aber ohne Ich-Gefühl. Dein Geist ist da, aber ohne alle Gedanken. Eine tiefe Stille … Und plötzlich steht – weil das Ich verschwindet und die Gedanken verschwinden – auch die Zeit still. Denn um die Zeit zu erfahren, sind die wechselnden Gedanken des Geistes erforderlich; anders ist die Bewegung der Zeit nicht zu erfahren.
Stellt euch einfach zwei Züge vor, die gleich schnell nebeneinander herfahren. Durch das Fenster seht ihr den anderen Zug, das gleiche Fenster, das gleiche Abteil –, und man hat das Gefühl stillzustehen. Genauso werden die Fahrgäste im anderen Zug das Gefühl von Stillstand haben.