Paul stellte in der Bibliothek fest, daß die Mehrzahl seiner Bücher verschwunden war. Er ging in Theodors Zimmer, nahm einige Bücher aus dem Regal und trug sie wieder in die Bibliothek. Dann kehrte er in das Zimmer des Bruders zurück. Er betrachtete drei Windjacken, die am Kleiderrechen hingen, mit schlaffen Ärmeln, an denen unter der Schulter ein Hakenkreuz angenäht war, schwarz auf weißem Grunde. In der Ecke lehnte ein Spazierstock, dessen Griff einen Totschläger aus Eisendraht enthüllte, der sich im hohlen Innern des Stockes barg. Ferner gab es eine Jagdflinte, zwei Pistolen im Nachtkasten und zwei Dolchmesser als Brieföffner auf dem Schreibtisch. Neben dem Tintenfaß standen kleine, würfelförmige Kästchen aus Pappendeckel, mit Patronen gefüllt. Theodor konnte sich hier gegen eine Kompanie verteidigen.
Es war heiß in diesem Zimmer, in dem sich außer dem Apparat der Zentralheizung noch ein kleiner, eiserner Ofen befand. Er war jetzt erkaltet, aber man sah ihm an, daß er noch gestern nacht gebrannt hatte. Der Ofen verlieh dem Zimmer etwas vom provisorischen Charakter einer Unteroffizierstube. Statt eines Schürhakens verwendete Theodor den Überrest von einem Schirmgestänge. In der Nähe des Ofens hingen zwei gekreuzte Schläger, ein Visier in der Mitte, eine beschützte Köstlichkeit.
Nur im Zimmer Theodors war es warm. Seitdem Frau Bernheim angefangen hatte zu sparen, durfte der Hausmeister erst heizen, wenn das Quecksilber auf 5 Grad Celsius gefallen war. Ein eisiger, wüster Hauch lag über den Möbeln, den Teppichen und an den Fenstern aller Zimmer. Sie erinnerten an die kalten, klaren, ordentlichen und unheimlich sauberen Stuben in den Auslagen der Möbelhandlungen. Alles war neu und unbenutzt. Die Politur blinkte wie am ersten Tag. Die Teppiche schienen keinen Staub aufzufangen. Mehrere hatte Frau Bernheim übrigens einrollen lassen und in die Winkel gestellt. Dort lehnten sie gewichtig und sicher und dennoch wie in der Erwartung, von irgend jemandem abgeholt zu werden. An den Stellen, wo sie fehlten, lag weiches, glattes, ziegelrotes Linoleum, auf dem man ging wie auf Radiergummi. Von den vielen Uhren, die Herr Felix Bernheim in sein umgebautes Haus gebracht hatte – zu seinen Lebzeiten stand oder hing in jedem Zimmer eine, denn er hatte eine Schwäche für Uhren und einen Sinn für den Wert der Zeit –, ging jetzt nur eine auf dem Kamin im Speisezimmer. Denn es schien Frau Bernheim, daß sich die kostbaren Werke allzusehr abnützten, wenn sie in Bewegung waren. Trotzdem ließ sie die toten Uhren, jede in einem Zimmer. Und aus den weißen und silbernen, zwecklos gewordenen Zifferblättern und von den Zeigern, die seit Jahren die gleiche, erstarrte Stunde wiesen, ging ein unheimliches Schweigen aus und strich durch die frostige Leere der Räume.
Paul ging ein paarmal durch das Haus. Er blieb immer wieder vor dem vergrößerten Brustbild seines Vaters stehn. Es hing in seinem Arbeitszimmer über dem Regal, auf dem sich einst zufällige Bücher gehäuft hatten, Korrespondenzen, Zeitungen, und auf dessen oberstem Fach heute nur eine Briefwaage stand, einsam, ganz leise zitternd wie infolge der Kälte, mit einer glänzenden Schale aus Messing. Der Blick des Vaters schien auf der Briefwaage zu ruhen. Sie hatte nichts mehr zu tun, als die Gewichtslosigkeit dieses toten Blicks anzuzeigen. Paul versuchte, hinter dem ziemlich mißlungenen und nur die repräsentative Oberfläche der Physiognomie enthaltenden Porträt das wirkliche Angesicht seines Vaters zu finden. Es gelang ihm nicht mehr. Er erinnerte sich noch an gewisse Bewegungen des Körpers und der Hände, deren blaue Adern und viereckige, sehr saubere und fast weiße Nägel. Aber das Angesicht blieb verschollen, es hatte nie gelebt. Es konnte auch gar nichts nützen, etwa die Gruft zu öffnen. Das Antlitz seines Vaters bestand jetzt aus tausend Löchern, es war Behausung und Nahrung der Würmer geworden.
Er war zum erstenmal über den Tod seines Vaters traurig. Der Vater war die einzige Kraft und Wärme dieser Familie gewesen. Paul faßte den Entschluß, das Haus zu verlassen. Solange seine Mutter lebte, war keine Änderung zu erwarten. Nie würde sie etwa Theodor gehen lassen. Paul selbst wollte wegfahren.
Er ging durch den Garten. Die Rosenstöcke zitterten, in Stroh verpackt, die jungen Weidensträucher am Gitter waren etwas größer geworden, die Zwerge troffen erbärmlich im Regen. Sie hatten allmählich ihre heiteren Farben verloren, und in das Kachelweiß ihrer Märchenbärte mischte sich das moosige Grün der Verwitterung. Sie waren als junge, frische Greislein gekommen, jetzt sahen sie dem Zerfall entgegen und verloren die heitere Würde ihres Alters. Anders als die Menschen waren die Zwerge aus der Fabrik Grützer und Compagnie weißhaarig in der Jugend und farblos im Alter. Über die schmalen Wege hatte man keinen Kies mehr gestreut, es knisterte nicht mehr unter den Füßen, der Schlamm der Erde verschluckte die kleinen Steinchen. Der Garten erinnerte an diesem kalten, regnerischen Herbsttag an ein Bauterrain.
»Was macht denn der Gärtner?« fragte Paul seine Mutter beim Essen. »Ich habe ihn entlassen«, sagte Frau Bernheim. »Das heißt, er ist eingerückt und vor einer Woche zurückgekommen, aber ich habe ihn nicht mehr genommen. Der Portier kann den Garten auch ganz gut versorgen. Wir müssen uns einschränken, Paul! Ich habe den großen Wagen und zwei Pferde verkauft und einen Teil der Stallungen dem Gerstner vermietet.«
»Wer ist das?«
»Der Milchhändler, weiß du nicht? Seit einem Jahr haben wir keine Köchin mehr, nur das Stubenmädchen, und das bißchen Essen mache ich selbst in der Küche.«
»Und geheizt wird auch nicht mehr.«
»Wir haben noch Kohle im Keller, aber es reicht nicht für den ganzen Winter, wenn wir jetzt schon anfangen. Was willst du denn im Januar machen? Und diese Zeiten! Die Bettler rennen uns das Haus ein und sind frech geworden. Eines Tages werden sie uns überfallen. Es gibt ja gar kein Gesetz mehr! Merwig hat mir geraten, Papiere zu kaufen. Was soll ich mit den Papieren, wenn ein großer Krach kommt?«
»Das Geld wird wertlos, Mutter!«
»Wertlos? Das Geld?« rief Frau Bernheim. »Was soll noch einen Wert haben?« Es war, als hätte man ihr mitgeteilt, daß heute zum letztenmal die Sonne aufgegangen sei.
»Es ist besser«, fuhr Paul fort, »Aktien zu kaufen.«
»Nein, um Gottes willen, Paul!« sagte die Mutter. »Für eine Frau sind Aktien gar nichts. Eine Frau versteht nichts von der Börse.«
»Laß doch Herrn Merwig!«
»Das kann man nicht, weißt du. Er hat mir zu den Kriegsanleihen geraten. Du wirst morgen ins Büro gehn und mit ihm sprechen. Er gefällt mir nicht mehr seit einigen Monaten. Es geht schlecht bei ihm zu Haus. Dem Sohn wurden die Beine amputiert, er hat keine Stellung mehr. Diese Leute! Die Angestellten sind immer nur ehrlich, solange sie auskommen.«
Sie sagte das mit ihrer alten »königlichen Hoheit«, ein Zustand, in dem sie sich immer noch wohl fühlte. Es kränkte sogar Paul, obwohl auch er niemals viel vom »Personal« hielt. »Aber Mutter – Herr Merwig ist dreißig Jahre in unseren Diensten!«
»Und im einunddreißigsten fängt er an zu stehlen«, sagte Frau Bernheim, und ihre Lippen schlossen sich gleich darauf so fest, daß die Haut über den Kiefern gespannt und das Angesicht einem weißen Stein ähnlich wurde.
Paul ging noch am Abend vor Büroschluß zu Herrn Merwig. Der saß, wie immer, hinter der gläsernen Mattscheibe an seinem hohen Pult. Sein dichter, grauer Schnurrbart sträubte sich, seine strengen, grünen Augen erinnerten an Scherben aus Flaschenglas, seine Stimme war ein kleines Grollen. Er gehörte zu den langjährig Dienenden, die den Unterschied zwischen Anständigkeit und Hartherzigkeit nicht mehr kennen, die also die unbedingte Ehrlichkeit eines Felsens haben.
»Es geht schlimm, Herr Paul«, sagte Merwig – und obwohl es nur eine Klage sein sollte, war es ein Vorwurf. »Seit dem Hinscheiden des seligen Herrn haben wir viele Kunden verloren. Die meisten sind zu den großen Banken gegangen, es geht allen kleineren schlecht. Die andern fangen jetzt allerlei