»Hier oben in diesem Teil des Nordens wurde nie viel geschmuggelt«, hatte er gesagt. »Wenn die Wikinger kamen, sind sie mit ihren Langbooten in den natürlichen Häfen gelandet und haben alles geplündert, was sie in die Finger bekommen konnten.«
Isa war mit Geschichten über die Wikinger aufgewachsen. Dieses rauhe und wilde Volk hatte nicht nur Schafe und Rinder verschleppt, sondern auch junge Frauen. Und überall, wo diese Männer gehaust hatten, hatten sie viele hellhaarige und blauäugige Babys hinterlassen, die sich sehr von den schmalen und dunklen Kelten und Schotten, die diesen Teil des Landes bewohnten, unterschieden.
»Doch viel wahrscheinlicher als alles andere ist, daß die Höhle von Schotten dazu benutzt wurde, sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen«, hatte der Colonel oft gesagt.
Isa hatte diese Erklärung eingeleuchtet, denn die Höhle erstreckte sich sehr weit in den Felsen hinein.
Außerdem hatte sie entdeckt, daß es eine Art Platte unter einem Felsvorsprung gab, die man leicht erklimmen und auf der man liegen konnte, ohne von jemandem gesehen zu werden.
Sie betrat die Höhle, weil sie so intensiv an ihre Kindheit gedacht hatte, ging zum entfernt gelegenen Ende und kletterte vorsichtig zu dem flachen Versteck hinauf.
Es schien ihr ein bißchen enger, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Aber sie war sicher, daß hier Raum genug war für einen Mann, seine Frau, vielleicht zwei Kinder und einige wenige Habseligkeiten.
Sie erinnerte sich lebhaft an die alten Erzählungen und die darin geschilderten Gefühle der Bewohner, wenn sie von ihrer Burg aus, die weiter im Norden lag, die ersten Schiffe der Wikinger über die Nordsee kommen sahen.
Sie schloß die Augen und stellte sich vor, sie müßte sich vor einem Wikinger verstecken, der bereits die Schafe ihres Vaters gestohlen hatte und jetzt sie verschleppen wollte. Vielleicht würde er noch auf dem Rückzug Haus und Hof niederbrennen. Mit geschlossenen Augen sah sie alles deutlich vor sich.
Dann hörte sie erstaunlicherweise Stimmen, die von unten zu ihr heraufdrangen. Einen Moment glaubte sie, ihre Phantasie spiele ihr einen Streich.
Doch als sie sich über die Kante des Felsens beugte, sah sie unten in der Höhle zwei Männer.
»Ich habe Rory gesagt, daß wir uns hier treffen«, sagte einer der Männer mit einer, wie es schien, unnötig leisen Stimme.
»Warum hast du diese Höhle gewählt?« fragte der andere.
Noch während er sprach, erkannte Isa, daß er Engländer war.
Der erste Mann hatte, wenn auch nur schwach, so aber doch unverkennbar, einen schottischen Akzent in seiner Stimme.
»Dies ist der einzige Ort, wo uns die verdammten Jäger, die hier dauernd auf der Pirsch sind, nicht entdecken und in die Quere kommen können«, erwiderte der erste Mann. »Man kann sonst nicht sicher sein, ob nicht jemand mit seinem Fernglas im Moor liegt und man beobachtet wird.«
»Ich verstehe«, sagte der Engländer. »Sind Sie aber auch sicher, daß wir diesem Rory vertrauen können?«
»Wir können ihm nicht nur trauen, sondern er kennt diese Umgebung hier wie seine Westentasche. Und nach all den Jahren wird die Karte kaum noch genau stimmen.«
»Das weiß ich«, antwortete der Engländer barsch. »Aber es gibt keinen Zweifel an ihrer Echtheit.«
»Mein lieber Freund« - das war offensichtlich der Schotte »ich will das ja gar nicht in Frage stellen, aber es wird trotzdem sehr schwierig sein, den Ort zu finden, wo der Schatz versteckt ist.«
Bei dem Wort Schatz horchte Isa auf. Jetzt wußte sie, worüber gesprochen wurde. Seit sie zurückdenken konnte, hatte der Clan der McNavern, dem auch ihr Vater angehörte, über einen Familienschatz gesprochen, der angeblich versteckt worden war, als die Überfälle der Wikinger an dieser Küste überhandnahmen und zur Plage wurden. Und obwohl sie ohne den Schatz abgezogen wären, war er seither nicht wiedergefunden worden.
Ihr war diese Geschichte, wie jedem anderen Kind im Clan, bekannt unter dem Namen RED RIDING HOOD oder CINDERELLA.
Dem damaligen Anführer des Clans, einem sehr vermögenden und einfallsreichen Mann, gehörten viele Morgen Land entlang der schottischen Küste. Er hatte auch die alte Burg gebaut, die hoch über den Klippen aufragte, wo der Fluß in die See mündete.
Er lebte dort, so erzählte die Geschichte, wie ein König.
All die anderen Clans in der Gegend fürchteten die McNavern und hatten es seit langem aufgegeben, gegen sie zu kämpfen, denn sie hatten noch nie ein Gefecht gewonnen.
Die einzigen Feinde der McNavern waren somit die Wikinger, die in den Sommermonaten mit ihren Schiffen kamen und in ihrer Beutegier alles raubten, was sie finden konnten. Das bedeutete, daß, die McNavern ständig nach ihnen Ausschau halten mußten.
Wenn das erste Segel der Wikinger-Langboote am Horizont gesichtet wurde, brachten sie ihre Schafe und Rinder im Moor in Sicherheit, ebenso wie die Frauen und Kinder. Der Rest versteckte sich in Höhlen oder in den Wäldern.
Nach wenigen Scharmützeln mit den Wikingern waren bereits einige der besten Männer des Clans getötet worden, denn die Wikinger hatten die besseren Waffen.
Daraufhin hatte der Chief des Clans die Order erteilt, daß sich mit den Frauen und Kindern auch alle Männer verstecken mußten, nach der Devise: ,Nur ein Krieger, der überlebt, kann auch morgen wieder in die Schlacht ziehen.‘
Er hatte einen guten Plan ausgearbeitet, der sich auch als erfolgreich erwies. Wenn die Wikinger kamen, fanden sie nur leere Siedlungen und Gehöfte vor und eine ebenso verlassene Burg. Und alle wertvollen Gegenstände, Kelche, Pokale und Juwelen waren weggeschafft worden.
Die Plünderer konzentrierten sich künftig stärker auf den Norden oder den Süden in der Hoffnung auf bessere Beute.
Da der Chief des Clans der McNavern seine Leute so weise führte, wuchs ihre Macht zunehmend.
Bis das Schicksal grausam zuschlug.
Als wieder einmal die Segel der Wikinger gesichtet wurden, nahm die ganze Versteck-Aktion wie schon oft zuvor ihren Lauf. Der Chief selbst leitete und überwachte das Zusammentragen der Schätze in der Burg. Diese waren von Jahr zu Jahr umfangreicher und kostbarer geworden, da man Gold in einem der Flüsse entdeckt und in den Bergen Amethyste gefunden hatte.
Diese Reichtümer, von denen man erzählte, daß sie ein enormes Gewicht auf die Waage brachten, wurden hastig zu einem geheimen Versteck transportiert.
Dieses war offenbar noch nie zuvor benutzt worden. Die Angst der Clan-Mitglieder, sie könnten gefangengenommen und gefoltert werden, bis sie das Versteck verrieten, war sehr groß. Deshalb wurde ein Versteck auch selten zweimal benutzt, und nur wenige kannten es überhaupt.
Vielleicht hatten an diesem Tag der Führer und die Ältesten, die mit der Schatz-Aktion betraut waren, mehr zu tragen als normalerweise. Oder aber sie waren langsamer gewesen als üblich.
Wie auch immer: Als sie den geheimen Ort verließen waren die Wikinger schon gelandet.
Und als sie die schottischen Männer auf sich zukommen sahen, töteten sie alle. Alle, die mitgeholfen hatten, die Reichtümer des Clans in Sicherheit zu bringen, kamen ums Leben, auch der Chief des Clans.
Somit gab es auch niemanden mehr, der dem Rest der McNavern etwas über den Verbleib des Schatzes hätte berichten können.
Diese Geschichte beflügelte immer wieder die Phantasie der Jungen und Mädchen aus der McNavern-Sippe.
Isa konnte sich gut daran erinnern, daß sie mit ihren Freunden oft Pläne geschmiedet hatte, ein Picknick zu veranstalten und die ganze Umgebung der Burg nach dem Schatz abzusuchen. Sie waren sicher gewesen, daß sie die Höhle finden würden, in der der Schatz verborgen lag. Sie hatte sich sogar ausgemalt, sie selbst würde den Schatz ganz allein entdecken und dann von ihrem Clan als Heldin gefeiert werden.
Jetzt