Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts, dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik, der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische. Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche im Engländer haßten. Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die englische Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste, weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor den gefährlichen Stürmen des Lebens, heiter, freundlich und gastlich, ein echtes »home« mit allem Kaminfeuer bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis für den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten ist. Dickens hat sich behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille seiner Nation: und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir gleichzeitig immer mit England.
Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das viktorianische Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare war der Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England. 1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen können, wird es dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das morsche Gebälk der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein paar in England wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt den alten sausenden Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi: die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt. Behaglich verschmaust England die noch blutige Beute; der Bourgeois,