Zu retten, um sie zwiefach zu verlieren. Denn jetzt, da sie gesichert scheint, führt das Schicksal seinen ersten Schlag. Ines, die jüngere Tochter, stirbt mählich hin an Schwindsucht, dann folgt ihr im Tode das einzige Enkelkind, das Ondine geboren, und wenige Jahre darauf an der gleichen Krankheit, zur Verzweiflung der Mutter, Ondine selbst. Alle die Lichter, die ihr Leben erhellten, löschen aus mit ihren Augensternen, und ebenso, wie einst in der Liebe, sieht sie nun im Schicksal einen finstern Hohn, eine Ironie des Glückes, die ihr Herz zerschneidet. Ihre Krone rollt in den Staub, mit einmal ist sie »la mère découronnée«; ihr Stolz, ihr Vertrauen sind gebrochen, die sieben Schwerter der Madonna durchbohren jetzt ihre Brust. Und als wären diese teuren Existenzen gleichsam unterirdisch miteinander verwurzelt gewesen, so stürzt jetzt plötzlich der ganze Wall ein, mit dem sie ihr Leben gefestigt glaubte. Ihr Onkel, ihr Bruder, ihre Freundin sterben, fast alle zu gleicher Zeit, in diesen entsetzlichen Jahren: wie Niobe sieht sie, versteinert vor Gram, einen nach dem andern unter den Pfeilen des Schicksals sinken.
Vor der Liebe konnte sie flüchten, doch nicht vor dem Tod. Gegen ihn ist sie machtlos. Nun ist, sie fühlt es, alles endgültig verloren. Die Liebe ihres alternden Gatten vermag ihr, der weißhaarigen Frau, keine neuen Kinder mehr zu erwecken. Ihre Familie ist zersprengt, die Freunde entschwunden, nichts kann sie mehr begnaden auf dieser Welt. Aus dem Trümmerfeld ihres Lebens glüht ihre Sehnsucht jetzt nur den Himmel mehr an. Sie hat nur Gott mehr, um ihn zu lieben, und sie bietet ihm das einzige, das Letzte, was sie besitzt, ihren Schmerz:
»Je vous donnerai tant de larmes Que vous me rendrez mes enfants.«
Zu ihm sprechen jetzt alle ihre Verse, zu ihm allein heben sich ihre Blicke. Die Erde hat für sie keine Heimstatt übrig, nur zurück will sie in die andere Welt, wo ihre Kinder sind und alles, was sie in diesen dumpfen Jahren geliebt. Verzweifelt pocht sie an die Himmelstür, sie weist ihre Wunden und ihre Armut:
»Ouvrez, je ne suis plus suivie Que par moi-même et par la vie.«
Sie weist ihre Wunden, sie bietet ihre Tränen, all ihren Schmerz breitet sie ihm hin.
Ihr Leiden ist höchstes Anrecht geworden, und was einst ihre Seligkeit war, das nennt sie jetzt Gott als Sinnbild des äußersten Schmerzes, da sie empor will in sein Herz:
»Laissez moi passer – je suis mère.«
Hingang und Unsterblichkeit
»Moi je pars, moi je passe Comme à travers les champs un filet d’eau s’en va; Comme un oiscau s’enfuit, je m’en vais dans l’espace Chercher l’immense amour, où mon cœur s’abreuva.«
Sie ist nun eine alte Frau, allein in der Welt. Armut und Trauer umschnüren ihr enges Schicksal mit schwarzem Rand. Das Feld ihres Lebens ist nach sechzig Jahren Mühe brach geblieben. Umsonst hat die Pflugschar des Leidens ihr Leben durchpflügt, Sturm hat alle Saaten verweht. Eine letzte Freundin hat sie noch, und der schreibt sie in diesem Jahr das Geheimnis ihrer Entrücktheit: »Höre mich an, ich bin heute in die Kirche gegangen und habe dort acht Kerzen angezündet, acht Kerzen, arm wie ich selbst. Sie waren für acht Seelen, für meine Seele, für Vater, Mutter, Bruder, Schwestern und Kinder. Ich habe sie brennen gesehen und verbrennen und glaubte sterben zu müssen. Ich sage es nur Dir allein: es war ein Besuch bei Gott.« Aber bald hat sie niemand mehr für vertrautes Wort, auch diese, die Letzte, Pauline Duchambge, geht ihr voraus. Nur zu Ihm, der nicht antwortet und doch alles hört, geht jetzt ihre Klage. Alle Verse, die Marceline Desbordes-Valmore noch schreibt, die letzten begnadetsten Gedichte sind Zwiesprache mit Gott. Sie hebt ihr tränenüberströmtes Antlitz zum Himmel empor, um die Erde nicht mehr zu sehn, die alles Leben von ihr getrunken hat. Sie hat längst Abschied genommen: »Tous mes étonnements sont finis sur la terre,
Tous mes adieux sont faits, l’âme est prête à jaillir.«
Jeder Tag ist ihr zur Last, und die sechzig Jahre stillen Leidens drängen sie nun ungestüm weg aus dieser vereinsamten Welt. Niemandem ist nun ihre Liebe, die unendliche, zu Dienst, und so fühlt sie sich ohne Sinn. Aus der Resignation wird Ungeduld, jede Stunde zwischen Menschen und Häusern Qual: »De chaque jour tombé mon épaule est plus légère.«
Abgekehrt ist ihr Blick von dieser Welt und nur einzig in die Ferne gerichtet, in Zukunft und Vergangenheit.
So sieht sie Michelet »ivre d’amour et de mort«, trunken von Liebe und von Tod. Und aus dieser Trunkenheit entstehen ihre letzten Gedichte, die schon ganz entirdischt und von Gottesgefühl magisch durchleuchtet sind wie das Dunkel einer Kirche von farbig gebrochenem Sonnenlicht. Alles hat ihr das Leben entwenden können, nur nicht die Glut des Gefühls. Aber nicht wie eine Fackel flattert sie mehr in Leidenschaft, sondern brennt fromm und windstill wie ein ewiges Licht. »Mon âme n’est pas éteinte, elle est montée plus haut.« Durch die immer dünnere Hülle ihrer Körperlichkeit glüht heißer die Seele durch, kaum ist sie selbst es noch, die spricht. Immer ist sie in diesen Versen die schon Aufsteigende, die schon Befreite, immer schon nahe bei Gott und nahe seinem Herzen. Schauernd reicht sie ihm die »Couronne effeuillée« ihres Geschicks zurück: »J’irai, j’irai porter ma couronne effeuillée
Au jardin de mon père où revit toute fleur;
J’y répandrai longtemps mon âme agenouillée:
Mon père a des secrets pour vaincre la douleur.
J’irai, j’irai lui dire, au moins avec mes larmes: ›Regardez, j’ai souffert…‹ Il me regardera, Et sous mes jours changés, sous mes pâleurs sans charmes, Parce qu’il est mon père il me reconnaîtra.
Il dira: ›C’est donc vous, chère âme désolée! La terre manque-t-elle à vos pas égarés? Chère âme, je suis Dieu: ne soyez plus troublée; Voici votre maison, voici mon cœur, entrez!‹
O clémence! ô douceur! ô saint refuge! ô Père! Votre enfant qui pleurait vous l’avez entendu! Je vous obtiens déjà puisque je vous espère Et que vous possédez tout ce que j’ai perdu.
Vous ne rejetez pas la fleur qui n’est plus belle; Ce crime de la terre au ciel est pardonné. Vous ne maudirez pas votre enfant infidèle, Non d’avoir rien vendu, mais d’avoir tout donné.«
Ein Jahr noch weilt, sie, nur mit den Sinnen, auf der Welt, der sich ihr Gefühl längst entwand. Und endlich, am 23. Juli 1859, nimmt sie der Tod zu sich. Auf dem hohen Friedhof von Montmartre wird sie begraben, nahe bei Heinrich Heines Ruhestatt,