Ein Meister bin ich worden Zu tragen Lust und Leid, Und meine Lust zu leiden, Ward mir zur Seligkeit.
Gottfried Keller
Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski und seinem Schicksal, eine Art liebevoller Feindschaft. Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu, alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander; es tut ihm weh, das Leben, weil es ihn liebt, und er liebt es, weil es ihn so stark faßt, denn im Leiden erkennt dieser Wissendste die stärkste Möglichkeit des Gefühls. Wie Jakob ringt es mit ihm, die unendliche Nacht seines Lebens bis zum Morgenrot des Todes und läßt ihn nicht aus der Umkrampfung, ehe er es nicht gesegnet hat. Und Dostojewski, der »Gottesknecht«, begreift die Größe dieser Botschaft und findet höchstes Glück darin, der ewig Bezwungene unendlicher Mächte zu sein. Mit fiebernden Lippen küßt er sein Kreuz: »Es gibt für den Menschen kein notwendigeres Gefühl, als sich vor dem Unendlichen beugen zu können.« In die Knie gebrochen unter der Last seines Schicksals, hebt er fromm die Hände und bezeugt die heilige Größe des Lebens.
In dieser Leibeigenschaft des Schicksals ist Dostojewski durch Demut und Erkenntnis der große Überwinder alles Leidens geworden, der mächtigste Meister und Umwerter seit den Tagen des Testaments. Je tiefer sein Körper stürzt, desto höher schwingt sich sein Glaube, je mehr er als Mensch erleidet, um so seliger erkennt er den Sinn und die Notwendigkeit des Weltleidens. Amor fati, die hingegebene Liebe zum Schicksal, die Nietzsche als das fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt ihn in jeder Feindlichkeit nur die Fülle fühlen, jede Heimsuchung als Heil. Wie Bileam verwandelt jeder Fluch sich dem Auserwählten zum Segen, jede Erniedrigung in Erhöhung. In Sibirien, Ketten an den Füßen, verfaßt er einen Hymnus an den Zaren, der ihn unschuldig zum Tode verurteilt, in uns unverständlicher Demut küßt er immer wieder die Hand, die ihn züchtigt; wie Lazarus noch fahl vom Sarge erstehend, ist er immer bereit, Zeugnis für die Schönheit des Lebens abzulegen, und aus seinem täglichen Sterben, aus seinen Krämpfen und epileptischen Zuckungen, noch Schaum vor dem Munde, rafft er sich auf, den Gott zu lobpreisen, der ihm diese Prüfung gesandt. Alles Leiden zeugt in seiner aufgetanen Seele neue Liebe zum Leiden, unersättlichen, lechzenden flagellantischen Durst nach neuen Märtyrerkronen. Schlägt ihn das Schicksal hart, so stöhnt er, blutend zusammenstürzend, schon nach neuen Schlägen. Jeden Blitz, der ihn trifft, fängt er auf und verwandelt, was ihn verbrennen sollte, in seelisches Feuer und schöpferische Ekstase.
Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des Erlebnisses verliert das äußere Schicksal gänzlich seine Herrschaft. Was Strafe und Prüfung scheint, wird dem Wissenden Hilfe, was den Menschen in die Knie stürzen soll, richtet den Dichter erst eigentlich auf. Was einen Schwächeren zermalmt hätte, stählt diesem Ekstatiker nur die Kraft. Das Jahrhundert, das gern mit Sinnbildern spielt, gibt eine Probe solcher Doppelwirkung gleichen Erlebnisses. Einen anderen Dichter unserer Welt, Oscar Wilde, streift ähnlicher Blitz. Beide stürzen sie, Schriftsteller von Namen, Adelige von Rang, eines Tages aus der bürgerlichen Sphäre ihrer Existenz ins Zuchthaus hinab. Aber der Dichter Wilde wird in dieser Prüfung zermalmt wie in einem Mörser, der Dichter Dostojewski aus ihr erst geformt wie Erz in feurigem Tiegel. Denn Wilde, der noch sozial empfindet, mit dem äußeren Instinkt des Gesellschaftsmenschen, fühlt sich geschändet durch das bürgerliche Brandmal, und das Furchtbarste an Erniedrigung wird ihm jenes Bad in Reading Goal, wo sein gepflegter Edelmannsleib in das von zehn anderen Sträflingen schon beschmutzte Wasser hinab muß. Eine ganz privilegierte Klasse, die Kultur der Gentlemen, schauert in seinem Grauen vor der physischen Vermengung mit dem Gemeinen. Dostojewski, der neue Mensch über allen Ständen, brennt dieser Gemeinsamkeit entgegen mit schicksalstrunkener Seele, zum Purgatorium seines Stolzes wird ihm das gleiche schmutzige Bad. Und in der demütigen Hilfeleistung eines schmierigen Tartaren erlebt er ekstatisch das christliche Mysterium der Fußwaschung. Wilde, in dem der Lord den Menschen überlebt, leidet bei den Sträflingen unter der Furcht, sie möchten ihn für ihresgleichen nehmen, Dostojewski leidet nur so lange, als Diebe und Mörder ihm noch die Bruderschaft verweigern, denn er fühlt jeden Abstand, jede Nicht-Bruderschaft als Makel, als Unzulänglichkeit seiner Menschlichkeit. Wie Kohle und Diamant gleiches Element, so ist dies Doppelschicksal eines und doch ein anderes für diese beiden Dichter. Wilde ist fertig, wie er aus dem Zuchthaus kommt, Dostojewski beginnt erst, Wilde verbrennt zur wertlosen Schlacke in gleicher Glut, die Dostojewski zu funkelnder Härte formt. Wilde wird gezüchtigt wie ein Knecht, weil er sich wehrt, Dostojewski triumphiert über sein Schicksal durch Liebe zu seinem Schicksal.
Solch ein Umwandler seiner Heimsuchungen ist Dostojewski, solch ein Umwerter aller Erniedrigungen, daß nur ein härtestes Schicksal ihm gemäß war. Denn gerade aus den äußeren Gefahren seiner Existenz hat er die höchsten inneren Sicherheiten gewonnen, seine Qualen werden ihm Gewinn, seine Laster Steigerungen, seine Hemmungen Auftriebe. Sibirien, die Katorga, die Epilepsie, die Armut, die Spielwut, die Wollüstigkeit, all diese Krisen seiner Existenz werden durch eine dämonische Umwertungskraft fruchtbar in seiner Kunst, denn wie die Menschen ihre kostbarsten Metalle aus den schwärzesten Tiefen der Bergwerke, so gewinnt der Künstler seine flammendsten Wahrheiten, seine letzten Erkenntnisse immer nur aus den gefährlichsten Abgründen seiner Natur. Künstlerisch gesehen eine Tragödie, ist das Leben Dostojewskis moralisch eine Errungenschaft ohnegleichen, weil Triumph des Menschen über sein Schicksal, eine Umwertung der äußeren Existenz durch die innere Magie.
Ohne Beispiel vor allem der Triumph geistiger Lebenskraft über einen siechen, gebrestigen Körper. Vergessen wir nicht, daß Dostojewski ein Kranker war, daß dieses eherne unvergängliche Werk aus geborstenen hinfälligen Gliedern, aus zuckenden und glühend flackernden Nerven gewonnen ist. Mitten durch seinen Körper war gefährlichstes Leiden gepfählt, ewig gegenwärtiges grauenhaftes Sinnbild des Todes: die Fallsucht. Dostojewski war Epileptiker die ganzen dreißig Jahre seiner Künstlerschaft. Mitten im Werk, auf der Straße, im Gespräch, selbst im Schlaf krallt sich plötzlich die Hand des »würgenden Dämons« um seine Kehle und schmettert ihn so jäh, Schaum vor dem Munde, zu Boden, daß der überraschte Körper sich im Falle blutig schlägt. Das nervöse Kind spürt schon in seltsamen Halluzinationen, in grauenhaften psychischen Anspannungen das Wetterleuchten der Gefahr, zum Blitz wird aber »die heilige Krankheit« erst im Zuchthaus geschmiedet. Dort preßt sie die ungeheure Überspannung der Nerven urmächtig heraus, und wie jedes Unglück, wie Armut und Entbehrung, bleibt die Körpernot Dostojewski treu bis in die letzte Stunde. Seltsam aber: niemals lehnt sich der Gemarterte mit einem Wort gegen die Prüfung auf. Nie klagt er über sein Gebrechen wie Beethoven über seine Taubheit, Byron über seinen verkürzten Fuß, Rousseau über sein Blasenleiden, ja nirgends ist bezeugt, daß er jemals ernstlich dagegen Heilung gesucht habe. Getrost darf man das Unwahrscheinliche als gewiß nehmen, daß er mit jenem unendlichen amor fati diese seine Krankheit liebte, als Schicksal liebte wie jedes seiner Laster und Gefahren. Die Spürsucht des Dichters bändigt das Leiden des Menschen: Dostojewski wird Herr seines Leidens, indem er es belauscht. Die äußerste Gefahr seines Lebens, die Epilepsie, er verwandelt sie in ein höchstes Geheimnis seiner Kunst: eine nie gekannte geheimnisvolle Schönheit saugt er aus diesen Zuständen, die wundervoll in den Augenblicken taumelnden Vorgefühls gesammelte Ichekstase. In ungeheuerlichster Abbreviatur ist hier der Tod mitten im Leben erlebt und in dieser einen Sekunde vor dem jedesmaligen Sterben, die stärkste, berauschendste Essenz des Seins, die pathologisch gesteigerte Anspannung des »Sichselbstempfindens«. Wie ein magisches Symbol bringt ihm das Schicksal immer wieder seinen intensivsten Lebensaugenblick, die Minute am Semenowski-Platz, ins Blut zurück, als sollte er niemals den grausigen Kontrast zwischen dem All und dem Nichts in seinem Gefühl verlernen. Auch hier schnürt immer Dunkel den Blick, auch hier stürzt wie Wasser aus übervoller, gebeugter Schale die Seele dem Körper aus, schon zittert sie mit gespannten Flügeln zu Gott empor, schon spürt sie überirdisches Licht auf den entkörperten Schwingen, Strahl und Gnade einer anderen Welt, schon sinkt die Erde, schon tönen die Sphären – da stürzt ihn der Donner des Erwachens wieder zerbrochen ins gemeine Leben hinab. Immer wenn Dostojewski diese eine Minute beschreibt, das traumhafte Glücksgefühl, das seine unerhörte Scharfsichtigkeit beobachtend beseelt, wird seine Stimme leidenschaftlich in Rückerinnerung und der Augenblick des Grauens