Aber bald hebt sich die dämonische Unruhe in ihm empor, jener »furchtbare Geist der Unrast«, der ihn »wie Wasserflut auf Bergesgipfel« treibt. Aus den Briefen beginnt eine leichte Verdüsterung zu sprechen, Klagen über die »Abhängigkeit«, und plötzlich bricht die Ursache hervor: er will fort. Hölderlin kann nicht in einem Amt, in einem Beruf, in einem Kreise leben: jede andere als eine poetische Existenz ist ihm unmöglich. Noch mag es ihm in dieser ersten Krise nicht bewußt sein, daß nur eine innere Dämonie ihm eifersüchtig jede weltliche Beziehung unhaltbar macht, noch benennt er, was die immanente Entzündlichkeit seines Triebwillens ist, mit äußeren Ursachen: diesmal ist es die Verstocktheit des Knaben, sein heimliches Laster, das er nicht bändigen kann. Man fühle daran Hölderlins ganze Unfähigkeit zum Leben: ein neunjähriger Knabe ist stärker im Willen als er. So läßt er die Stellung. Charlotte von Kalb, die im vollsten Verstehen ihn scheiden sieht, schreibt der Mutter (um sie zu trösten) die tiefere Wahrheit. »Sein Geist kann sich zu dieser kleinlichen Mühe nicht herablassen… oder vielmehr sein Gemüt wird zu sehr davon affiziert.«
Von innen heraus zerstört Hölderlin also alle ihm gebotenen Lebensformen: nichts ist darum psychologisch falscher als die umgängige sentimentale Auffassung der Biographen, Hölderlin sei überall erniedrigt und beleidigt worden. In Wahrheit versuchte man ihn immer und überall zu schonen. Aber seine Haut war zu dünn, seine Empfindsamkeit überreizt: »sein Gemüt wurde zu sehr affiziert«. Was Stendhal einmal von seinem Spiegelbild Henri Brulard sagt: »Ce qui ne fait qu’effleurer les autres me blesse jusqu’au sang«, gilt für ihn und alle Empfindsamen. Wirklichkeit empfand er schon an und für sich als Feindseligkeit, die Welt als Brutalität, Abhängigkeit als Knechtschaft. Nur dichterischer Zustand kann ihn glücklich machen, außerhalb dieser Sphäre vermag Hölderlins Atem nicht ruhig zu gehen, er schlägt um sich und würgt an der irdischen Luft wie ein Erstickender. »Warum bin ich denn friedlich und gut wie ein Kind, wenn ich ungestört mit süßer Muße das unschuldigste aller Geschäfte treibe?« staunt er selbst, von dem ewigen Konflikt erschreckt, mit dem ihn jede Begegnung befällt. Noch weiß er es nicht, daß seine Lebensuntüchtigkeit eine unheilbare ist, noch glaubt er, daß »Freiheit«, daß »Dichtung« ihn der Welt verbinden könne. So wagt er sich in eine ungebundene Existenz: hoffnungsvoll durch begonnenes Werk versucht es Hölderlin mit der Freiheit. Freudig bezahlt er mit bitterer Entbehrung das Leben im Geiste. Im Winter verbringt er ganze Tage im Bett, um Holz zu sparen, nie gönnt er sich mehr als eine Mahlzeit des Tags, verzichtet auf Wein und Bier, auf die bescheidenste Vergnügung. Von Jena sieht er kaum mehr als Fichtes Kolleg, manchmal gönnt ihm Schiller eine Stunde bei sich, sonst wohnt er einsam in ärmlicher Bettstelle (kaum eine Kammer zu nennen). Seine Seele aber wandert mit Hyperion nach Griechenland, und er könnte sich selig nennen, wäre nicht von innen her ihm immer wieder Unrast und ewiger Aufbruch bestimmt.
Gefährliche Begegnung
Ach, wär ich nie in eure Schulen gegangen.
Hyperion
Das erste in Hölderlins Entschluß zur Freiheit ist der Gedanke an das Heroische des Lebens, der Wille, das »Große« zu suchen. Doch ehe er sich vermißt, es in der eigenen Brust zu entdecken, will er »die Großen« sehen, die Dichter, die heilige Sphäre. Nicht Zufall treibt ihn gerade nach Weimar: dort sind Goethe und Schiller und Fichte und ihnen zur Seite wie die leuchtenden Trabanten um die Sonne Wieland, Herder, Jean Paul, die Schlegels, Deutschlands ganzer geistiger Sternenhimmel. Solche gesteigerte Atmosphäre zu atmen, sehnt sich sein allem Unpoetischen geradezu gehässiger Sinn: hier hofft er antikische Luft nektarisch einzusaugen und in dieser Agora des Geistes, in diesem Kolosseum dichterischen Ringens die eigene Kraft zu erproben.
Solchem Ringen aber will er sich erst bereiten, denn der junge Hölderlin fühlt sich geistig, fühlt sich gedanklich und im Sinne der Bildung nicht vollwertig neben Goethes umspannendem Weltblick, neben Schillers »kolossalischem«, in gewaltigen Abstraktionen wirkendem Geiste. So meint er – der ewig waltende deutsche Irrtum! – sich systematisch »bilden«, Philosophie in Kollegien »belegen« zu müssen. Genau wie Kleist vergewaltigt auch er seine durchaus spontane, exaltive Natur durch den zwanghaften Versuch, seine Himmel sich metaphysisch zu erläutern, seine dichterischen Pläne mit Doktrinen zu unterlegen. Ich fürchte, es ist noch niemals mit dem notwendigen Freimut ausgesprochen worden, wie verhängnisvoll damals nicht nur für Hölderlin, sondern für die ganze deutsche dichterische Produktivität die Begegnung mit Kant, die Beschäftigung mit der Metaphysik geworden ist.
Und mag auch die traditionelle Literaturlehre es auch ferner noch als herrlichen Höhepunkt feiern, daß die deutschen Dichter damals Kants Ideen eilig in ihre dichterischen Bezirke aufnahmen – ein freier Blick muß endlich wagen, die verhängnisvollen Schäden dieser dogmatisch-grüblerischen Invasion festzustellen. Kant hat – ich spreche hier eine streng persönliche Überzeugung aus – die reine Produktivität der klassischen Epoche, die er mit der konstruktiven Meisterschaft seiner Gedanken überwältigte, unendlich gehemmt, der Sinnlichkeit, der Weltfreudigkeit, dem Freilauf der Phantasie bei allen Künstlern durch die Ablenkung auf einen ästhetischen Kritizismus unendlichen Abbruch getan. Er hat jeden Dichter, der sich ihm hingab, im rein Dichterischen dauerhaft gehemmt und wie könnte auch ein Nur-Gehirn, ein Nur-Geist, ein solcher gigantischer Eisblock jemals wirkliche Fauna und Flora der Phantasie befruchten, wie könnte dieser steife, lebensloseste Mensch, der sich zum Automaten des Denkens entpersönlicht hatte, von diesem Manne, der nie eine Frau berührte, nie den Umkreis seiner Provinzstadt überschritt, der jedes Zähnchen seines Tageräderwerkes um die gleiche Stunde durch fünfzig, nein durch siebzig Jahre automatisch kreisen ließ – wie könnte, so frage ich, eine solche Nichtnatur, ein dermaßen unspontaner, selbst zu einem starren System gewordener Geist (dessen Genialität eben in dieser fanatischen Konstruktivität beruht) jemals den Dichter fördern, den sinnlichen, vom heiligen Zufall des Einfalls beschwingten, von der Leidenschaft ständig ins Unbewußte getriebenen Menschen? Kants Einfluß zieht die Klassiker von ihrer ursprünglichsten Leidenschaft ab und unmerklich in einen neuen Humanismus hinein, in eine Gelehrtenpoesie. Oder ist es im letzten nicht unendlichster Blutverlust für die deutsche Dichtung gewesen, wenn Schiller, der Former der bildhaftesten deutschen Gestalten, sich ernst im Gedankenspiel abmüht, die Dichtung in Kategorien zu spalten, in naive und sentimentalische, und wenn Goethe mit den Schlegels über klassisch und romantisch dissertiert? Ohne es zu wissen, ernüchtern sich die Dichter an der Überhelle des Philosophen, an dem kalten rationalistischen Licht, das von diesem systematischen, kristallinisch gesetzhaften Geiste ausgeht, gerade wie Hölderlin nach Weimar kommt, hat Schiller schon die Rauschkraft seiner frühen, seiner dämonischen Inspiration verloren und Goethe (dessen gesunde Natur mit einem urtümlichen Feindschaftsinstinkt gegen alles systematisch Metaphysische tätig reagierte) sich mit seinem Hauptinteresse der Wissenschaft zugewandt. In welchen rationalistischen Sphären ihre