Nach der Grafßkaja, Euer Wohlgeboren, wenn's gefällig ist! bieten uns zwei oder drei verabschiedete Matrosen ihre Dienste an, indem sie in ihren Böten aufstehen.
Wir wählen den, der uns am nächsten ist, schreiten über den halbverfaulten Kadaver eines braunen Pferdes, der hier im Schmutz in der Nähe des Bootes liegt, und gehen an's Steuerruder. Wir stoßen vom Ufer ab. Rings um uns haben wir das schon in der Morgensonne glänzende Meer, vor uns den alten Matrosen, in einem Überrock aus Kamelhaar, und einen blonden Knaben, die unter Schweigen emsig die Ruder führen. Wir sehen die vielen segelfertigen Schiffe, die nah und fern in der Bucht zerstreut sind, die kleinen, schwarzen Punkte der auf dem glänzenden Azur des Meeres sich bewegenden Schaluppen und die auf der andern Seite der Bucht befindlichen, durch die hellroten Strahlen der Morgensonne gefärbten, schönen und hellen Häuser der Stadt; wir sehen die schaumbespritzte Linie des Molo und der versenkten Schiffe, deren schwarze Mastenspitzen hie und da düster aus dem Wasser ragen; unserm Blicke begegnet die entfernte feindliche Flotte, die am kristallenen Horizont des Meeres unthätig daliegt, endlich sehen wir die durch unsere Ruder in den schäumenden Wellen in die Höhe geworfenen und springenden Tropfen der Salzflut; wir hören den einförmigen Laut von Stimmen, die über das Wasser her zu uns dringen, und die majestätischen Töne der Kanonade, die, wie uns scheint, immer stärker wird in Sewastopol.
Es ist unmöglich, daß bei dem Gedanken: auch wir sind in Sewastopol, unsere Seele nicht das Gefühl eines gewissen Mutes und Stolzes durchdringe, und das Blut nicht schneller in unsern Adern fließe.
Euer Wohlgeboren! Steuern Sie direkt auf den Kistentin (das Schiff »Konstantin«), sagt zu uns der alte Matrose, indem er sich rückwärts wendet, um die Richtung, die wir dem Boote geben, zu berichtigen, das Steuerruder rechts!
Und er hat noch all seine Kanonen! bemerkt der blonde Bursche, während er am Schiffe vorbeirudert und es betrachtet.
Freilich. Er ist neu, Kornilow hat ihn befehligt, bemerkt der Alte, indem er ebenfalls das Schiff betrachtet.
Sieh, wie sie geplatzt ist! sagt der Knabe nach einem längeren Schweigen, indem er auf ein weißes Wölkchen zerfließenden Rauches sieht, das sich plötzlich hoch über der südlichen Bucht erhebt und von dem lauten Krachen einer platzenden Bombe begleitet ist.
Er feuert heut aus einer neuen Batterie, fügt der Alte hinzu, indem er sich gleichmütig in die Hände spuckt. Nun, Mischka, zugerudert, wir wollen die Barkasse überholen! ... Und unser Boot eilt schneller vorwärts über die weite, wogende Bucht, überholt wirklich die schwere Barkasse, die mit Säcken beladen ist und von ungeschickten Soldaten ungleich gerudert wird, und landet, zwischen einer Menge am Ufer befestigter Böte, im Grafßkaja-Hafen.
Auf dem Uferdamm bewegen sich lärmend Scharen von Soldaten in grauen Mänteln, von Matrosen in schwarzen Winterröcken und von buntgekleideten Frauen. Alte Weiber verkaufen Semmeln, Bauern mit Theemaschinen schreien: »Heißer Sbitjen!«[A] und dort auf den ersten Stufen der nach dem Landungsplatz führenden Treppe liegen verrostete Kanonenkugeln, Bomben, Kartätschen und gußeiserne Kanonen verschiedenen Kalibers; etwas weiter ist ein großer Platz, auf dem mächtige Balken, Kanonenlafetten, schlafende Soldaten liegen, und Pferde, Fuhrwerke, grüne Pulverkasten mit Geschützen, und Sturmgeräte der Infanterie stehen; Soldaten, Matrosen, Offiziere, Weiber, Kinder und Kaufleute bewegen sich durcheinander; Bauernwagen mit Heu, mit Säcken und Fässern kommen angefahren; hier reitet ein Kosak und ein Offizier, dort fährt ein General in einer Droschke. Rechts ist die Straße durch eine Barrikade gesperrt, auf der in Schießscharten kleine Kanonen stehen; neben diesen sitzt, seine Pfeife rauchend, ein Matrose. Links erhebt sich ein hübsches Haus mit römischen Ziffern an der Stirnseite, vor dem Soldaten neben blutigen Tragbahren stehen, – überall sehen wir die häßlichen Spuren des Lagerlebens im Kriege. Der erste Eindruck, den wir empfinden, ist jedenfalls der unangenehmste; die eigentümliche Vermischung des Lagerlebens mit städtischem Leben und Treiben, der schönen Stadt mit dem schmutzigen Biwak ist nicht nur unschön, sondern kommt uns wie ein widerwärtiges Durcheinander vor; es scheinen uns sogar alle bestürzt und unruhig, und nicht zu wissen, was sie thun sollen. Aber wenn wir den Menschen, die sich um uns herum bewegen, näher ins Gesicht sehen, kommen wir zu einer ganz andern Ansicht. Betrachten wir nur diesen Train-Soldaten, der seine drei Braunen zur Tränke führt, und so ruhig vor sich hinsummt, daß man ihm anmerkt, er wird sich in dieser bunten Menge, die für ihn nicht existiert, nicht verirren, er verrichtet seine Arbeit, welche es immer sei, ob Pferde zu tränken, oder am Geschütz zu ziehen, ebenso ruhig, selbstvertrauend und gleichgültig, als wenn das alles irgendwo in Tula oder Saransk geschehe. Denselben Ausdruck lesen wir auch auf dem Gesicht des jungen Offiziers, der in tadellosen weißen Handschuhen vorbeigeht, auf dem Gesicht des Matrosen, der rauchend auf der Barrikade sitzt, auf den Gesichtern der als Träger verwendeten Soldaten, die mit Bahren auf der Außentreppe des ehemaligen Kasinos warten, und auf dem Gesicht des Mädchens, das, in der Furcht, sein rosafarbenes Kleid naß zu machen, von Stein zu Stein über die Straße hüpft.
[A] Getränk aus Wasser, Honig und Lorbeerblättern oder Salbei, das von den Aermeren als Thee getrunken wird. Anm. d. Herausg.
Wenn wir zum erstenmal in Sewastopol ankommen, sind wir unbedingt enttäuscht. Wir suchen vergebens, auch nur auf einem Gesicht, Spuren von Unruhe und Kopflosigkeit, oder auch von Begeisterung, Todesmut und Entschlossenheit, – nichts von alledem: wir sehen ruhig mit ihrer Alltagsarbeit beschäftigte Alltagsmenschen, so daß wir uns vielleicht selbst ein Übermaß von Enthusiasmus vorwerfen, daß wir leise Zweifel hegen an der Richtigkeit der Vorstellung von dem Heldenmut der Verteidiger Sewastopols, die wir uns nach den Erzählungen, den Beschreibungen gebildet haben und dem, was wir auf der Nordseite gesehen und gehört. Aber ehe wir zweifeln, gehen wir auf die Bastionen, betrachten wir Sewastopols Verteidiger auf dem Schauplatz der Verteidigung selber, – oder noch besser, gehen wir direkt in das Haus gegenüber, das früher das Sewastopoler Kasinogebäude gewesen und auf dessen Außentreppe Soldaten mit Tragbahren stehen, – da werden wir die Verteidiger Sewastopols sehen, da werden wir schreckliche, traurige, große, Erstaunen erregende und herzerhebende Szenen sehen.
Wir wollen in den großen Saal des Kasinos gehen. Kaum haben wir die Thür geöffnet, da erschreckt uns plötzlich der Anblick und der Geruch von vierzig oder fünfzig amputierten, sehr schwer verwundeten Kranken, die einen auf Pritschen, die meisten auf der Diele liegend. Wir dürfen dem Gefühl, das uns an der Schwelle zurückhält, nicht nachgeben – es ist kein schönes Gefühl; gehen wir nur vorwärts, schämen wir uns nicht, daß wir gekommen, von den quälendsten Schmerzen Gepeinigte zu sehen – schämen wir uns nicht, zu ihnen zu gehen und mit ihnen zu sprechen: die Unglücklichen sehen gern ein mitfühlendes Menschenantlitz, sprechen gern von ihren Qualen und hören gern Worte der Liebe und Teilnahme ... Wir wollen in der Mitte der Lagerstätten entlang gehen und ein weniger düsteres und schmerzdurchfurchtes Gesicht suchen, zu dem wir hingehen können, um zu sprechen.
Wo bist du verwundet? – fragen wir unentschlossen und zaghaft einen alten, abgemagerten Soldaten, der auf einer Pritsche sitzt, uns mit einem treuherzigen Blicke verfolgt und uns aufzufordern scheint, an ihn heranzukommen. Ich sage: zaghaft fragen wir, weil Leiden nicht nur tiefes Mitgefühl, sondern auch Scheu vor der Möglichkeit zu beleidigen und Hochachtung vor dem, der sie erträgt, einflößen.
Am Bein, antwortet der Soldat, aber zugleich bemerken wir selber an den Falten der Decke, daß ihm ein Bein bis zum Knie fehlt. Gott sei Dank, fügt er hinzu: ich werde jetzt aus dem Lazarett entlassen werden.
Und ist es schon lange her, daß du verwundet worden bist?
Ja, vor sechs Wochen, Euer Wohlgeboren.
Schmerzt es dich jetzt?
Nein, jetzt schmerzt es nicht, – gar nicht; nur die Wade scheint mir weh zu thun, wenn schlechtes Wetter ist, das ist alles.
Wie