»Seht!« ruft die Hexe. »Dort war der Ofen. Dort machten sie die Eisen glühend heiß. Jene Löcher stützten den gespitzten Pfahl, an dem die Gemarterten hingen; mit ihrem ganzen Gewicht baumelten sie vom Dach herab. Aber«, flüsterte die Hexe, »hat Monsieur von diesem Turme gehört? Ja? Dann sehen Sie hinab!«
Eine kalte Luft, schwer von einem erdigen Geruch, strömt mir entgegen; denn sie hat unterdes eine Falltür in der Mauer geöffnet. Ich sehe hinein. Hinab auf den Boden, hinauf zum Gipfel eines steilen, finsteren, hohen Turmes: sehr unheimlich, sehr finster, sehr kalt. »Der Henker der Inquisition«, erzählt die Hexe, und sah neben mir hinunter, »warf hier die hinein, die über alles fernere Foltern hinaus waren. Aber schaut! Sieht Monsieur die schwarzen Flecken an der Mauer?« Ein Blick über die Schulter nach dem funkelnden Auge der Hexe zeigt mir – und würde mir auch ohne diese Führer gezeigt haben –, wo sie sind. »Was ist das?« – »Blut!«.
Im Oktober 1791, als die Revolution in dieser Stadt ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden hier sechzig Personen, Männer und Frauen (»und Priester«, sagte die Hexe, »Priester«), ermordet, und die Toten und die Sterbenden wurden zusammen in diesen schrecklichen Abgrund gestürzt, wo man dann ungelöschten Kalk auf ihre Leichname warf. Diese gräßlichen Zeichen des Blutbades waren bald verschwunden; aber solange ein Stein dieses festen Gebäudes, in welchem die Tat geschah, auf dem andern bleibt, so lange werden sie in dem Gedächtnis der Menschen so deutlich bleiben, wie jetzt die Flecken von ihrem Blute an der Mauer zu sehen sind.
War es ein Teil des großen Werkes der Vergeltung, daß die grausame Tat an diesem Ort geschehen mußte? Daß ein Teil der Grausamkeiten und der scheußlichen Institutionen, die seit Jahrhunderten beschäftigt gewesen sind, die Natur des Menschen zu vergewaltigen, in ihrem letzten Dienste sich jenen Männern als Verlockung darbieten mußten, ihre viehische Wut zu befriedigen! Daß sie diesen Wüterichen die Möglichkeit gaben, sich auf der Höhe ihres Wahnsinns nicht schlimmer zu zeigen als eine große feierliche und gesetzliche Einrichtung auf der Höhe ihrer Macht! Nicht schlimmer? Viel besser! Sie benutzten den Turm der Vergessenen im Namen der Freiheit – ihrer Freiheit; eines erdgeborenen Wesens, gesäugt in dem schwarzen Schmutz der Bastillengräben und Kerker und notwendigerweise behaftet mit manchen Spuren seiner ungesunden Auferziehung – aber die Inquisition benutzte sie im Namen des Himmels.
Der alten Hexe Finger ist wieder gehoben, und sie schleicht wieder hinaus in die Kapelle des Heiligen Offiziums. Sie macht an einer gewissen Stelle halt. Ihr Haupteffekt kommt jetzt. Sie wartet auf die übrigen. Sie stürzt auf den wackeren Kurier los, der etwas erklärt, gibt ihm mit dem größten Schlüssel einen schallenden Schlag auf den Hut und heißt ihn schweigen. Sie versammelt uns alle um eine kleine Falltür im Fußboden wie um ein Grab. » Voilà!« Sie schießt nieder auf den Ring und reißt die Tür mit einem Krach auf, obgleich sie nicht leicht ist. » Voilà les oubliettes!« Schauerlich! Schwarz! Grauenhaft! Tödlich! » Les oubliettes de l'Inquisition!«
Mein Blut erstarrte, als ich von der alten Hexe hinab in die Gewölbe sah, wo diese vergessenen Geschöpfe mit Erinnerungen an die Außenwelt, an Gattinnen, Freunde, Kinder, Brüder, zu Tode hungerten und die Mauern widerhallen machten von ihrem nutzlosen Stöhnen. Aber als ich die verfluchte Mauer unten zerfallen und durchbrochen und die Sonne durch ihre klaffenden Wunden scheinen sah, da durchzuckte mich ein Gefühl des Sieges und des Frohlockens. Als ich es sah, fühlte ich mich erhöht in dem stolzen Gefühl, in diesen entarteten Zeiten zu leben: als ob ich der Held einer großen Tat wäre! Das Licht in diesem schaurigen Gewölbe war ein Symbol des Lichtes, welches herabfällt auf alle Verfolgungen in Gottes Namen, obgleich es seinen Mittag noch nicht erreicht hat! Es kann einem Blinden, dem eben das Gesicht wiedergeschenkt ist, nicht lieblicher erscheinen, als einem Reisenden, der es ruhig und majestätisch sich in das Dunkel dieses Höllenbrunnens hinab ergießen sieht.
Von Avignon nach Genua
Nachdem die Alte uns die Oubliettes gezeigt hatte, fühlte sie, daß ihr großer Coup gelungen war. Sie ließ die Tür schmetternd zufallen, stellte sich davor hin, die Arme in die Seite gestemmt, und sah uns im Gefühl ihrer Wichtigkeit an. Als wir den Ort verließen, begleitete ich sie in ihre Wohnung unter dem äußeren Tor der Festung, um eine kleine Geschichte des Gebäudes zu kaufen. Ihre Schenke, ein dunkles niedriges Gemach, trüb erhellt von kleinen Fenstern, tief eingeschnitten in die dicke Mauer, wirkte in seinem Zwielicht und mit seinem Kamin wie eine Schmiedeesse; der kleine Schenktisch an der Tür, die Flaschen, Krüge und Gläser, der Hausrat und die Kleidungsstücke an den Wänden und eine ruhig aussehende Frau (sie mußte ein schönes Leben mit der Hexe führen), die an der Tür strickte – all dies glich ganz einem Gemälde von Ostade.
Ich ging um die Außenseite des Gebäudes in einer Art Traum und doch mit dem angenehmen Gefühle, aus ihm erwacht zu sein, denn diese Versicherung hatte mir das Licht unten in den Gewölben gegeben. Die gewaltige Dicke und schwindelnde Höhe der Mauern, die ungeheure Stärke der massiven Türme, die große Ausdehnung des Gebäudes, seine riesenhaften Verhältnisse, sein düsteres Aussehen und seine barbarische Unregelmäßigkeit flößen Grauen und Staunen ein. Die Erinnerung an den verschiedenartigen Gebrauch, den man ehemals von ihm machte, als uneinnehmbare Festung, als üppiger Palast, als schrecklicher Kerker, als Ort der Marter, als Gerichtshof der Inquisition – zu ein und derselben Zeit ein Haus der Freude, des Kampfes, der Religion und des Blutes – gibt jedem seiner ungeschlachten Steine eine schreckliche Faszination und prägt seinen Unregelmäßigkeiten eine neue Bedeutung auf. Ich konnte jedoch damals und lange Zeit später an nichts anderes denken als an die Sonne in dem Kerker. Daß der Palast zu einem Aufenthaltsort für lärmende Soldaten geworden und gezwungen war, ihr rohes Gespräch und ihre gemeinen Flüche zurückzuhallen und ihre Kleider aus seinen schmutzigen Fenstern flattern zu sehen, das war schon ein gewisser Abstieg und zugleich etwas, worüber man sich freuen konnte; aber der Tag in seinen Zellen und der Himmel als Dach über seinen Folterkammern – das war seine Niederlage und sein Untergang! Hätte ich es gesehen in einer Flammenbrunst vom Graben bis zur Zinne, so hätte ich doch gefühlt, daß nicht das Licht und auch nicht alles Licht der Flammen, welche brennen, ihn so verzehren könnten wie die Sonnenstrahlen in seiner geheimen Gerichtskammer und in seinen Gefängnissen.
Ehe ich diesen Palast der Päpste verlasse, erlaubt mir noch, aus der obenerwähnten kleinen Geschichte eine für das Gebäude ganz charakteristische Anekdote mitzuteilen.
»Eine alte Sage erzählt, daß 1441 ein Neffe von Pierre de Lude, dem päpstlichen Legaten, einige vornehme Damen von Avignon ernstlich beleidigt habe, worauf die Verwandten dieser Damen, um sich zu rächen, sich des Jünglings bemächtigt und ihn schrecklich verstümmelt hätten. Mehrere Jahre lang hielt der Legat seine Rache in seinem Herzen versteckt, aber er war nichtsdestoweniger entschlossen, sie endlich zu befriedigen. Bis dahin tat er sogar Schritte zu einer gänzlichen Versöhnung; und als seine scheinbare Aufrichtigkeit die Leute gewonnen hatte, lud er gewisse Familien, ganze Familien, die er auszurotten wünschte, zu einem glänzenden Mahle in diesen Palast. Die größte Fröhlichkeit herrschte bei dem Gelage; aber die Maßregeln des Legaten waren gut vorbereitet. Als der Nachtisch auf der Tafel stand, trat ein Schweizer mit der Meldung herein, daß ein fremder Gesandter um eine außerordentliche Audienz bitte. Der Legat entschuldigte sich für einen Augenblick bei seinen Gästen und entfernte sich mit seinem Gefolge. Wenige Augenblicke später war von fünfhundert Personen nur noch die Asche übrig – dieser ganze Flügel des Gebäudes war mit einer schrecklichen Explosion in die Luft gesprengt worden.«
Nachdem wir die Kirchen besichtigt hatten (ich will