»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«
»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«
Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.
Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.
Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«
»Aber nicht vor Kälte,« antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.
»Weshalb denn sonst?«
»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daß sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.
Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben,« sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiß bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«
»Kennen Sie mich denn?«
»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«
Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.
»Sie brauchen sich nicht zu verwundern,« fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«
»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige,« versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«
Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.
»Farintosh,« murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«
»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.
»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.
»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«
Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.
»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß er sich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.
Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt