Ich schrieb meine Artikel und dachte wenig über die Sache nach, bis ich bald darauf für einen Freund einen Wechsel von 25 Pfund, den ich unterschrieben hatte, einlösen mußte. Ich war völlig ratlos, wo ich das Geld auftreiben sollte, da kam mir plötzlich ein rettender Gedanke. Mein erstes war, den Gläubiger um vierzehn Tage Verlängerung anzugehen, dann erbat ich mir Urlaub und verbrachte diese Zeit in meiner einstigen Verkleidung als Bettler in der Stadt. In zehn Tagen war das Geld beisammen und meine Schuld bezahlt.
Nun können Sie sich denken, wie schwer es mir ankam, mich wieder zu angestrengter Arbeit mit einem wöchentlichen Gehalt von zwei Pfund zu bequemen, da ich doch wußte, daß mir ein bißchen Schminke, Stillesitzen und die Mütze auf die Erde stellen an einem einzigen Tage ebensoviel eintrug. Zwischen meinem Stolz und meiner Geldgier entstand ein langer Kampf, bei dem schließlich die letztere den Sieg davontrug. So hängte ich denn die Zeitungsschreiberei an den Nagel und saß Tag für Tag in der Ecke, die ich mir gleich zu Anfang ausersehen hatte, erregte durch mein jammervolles Aussehen Mitleid und füllte meine Taschen mit Kupfermünzen. Nur ein einziger Mensch wußte um mein Geheimnis. Er war Inhaber einer elenden Kneipe in der Swandamstraße, wo ich einkehrte, um von dort jeden Morgen als schmutziger Bettler hervorzugehen und mich abends wieder zum wohlanständigen Städter umzuwandeln. Dieser Mensch, ein eingewanderter Malaie, wurde von mir für sein Zimmer gut bezahlt, und somit wußte ich, daß mein Geheimnis bei ihm wohl verwahrt blieb.
Sehr bald zeigte es sich, daß ich ganz bedeutende Summen einnahm. Ich glaube kaum, daß jeder Straßenbettler in London siebenhundert Pfund im Jahr zusammenbringen kann – und dies ist weniger als meine Durchschnittseinnahme betrug –, aber mir kam der Umstand zu statten, daß ich mich außergewöhnlich gut herrichten konnte und stets eine schlagfertige Gegenrede bereit hatte, eine Fähigkeit, die mit der Zeit zunahm, so daß ich schließlich zu einer stadtbekannten Persönlichkeit wurde. Eine Menge Kupfermünzen, mit Silberstücken gemischt, flossen mir im Laufe des Tages zu, und schlecht war die Einnahme, wenn sie einmal unter zwei Pfund betrug.
Mit dem Reichwerden nahm auch der Ehrgeiz zu. Ich bezog ein Landhaus, heiratete sogar, und niemand hatte eine Ahnung von meiner eigentlichen Beschäftigung. Meine gute Frau wußte, daß ich in der Stadt zu tun hatte. Was es aber war, vermutete sie nicht.
Letzten Montag hatte ich mein Tagewerk eben beendigt und kleidete mich in meinem Zimmer über der Opiumkneipe um, als ich aus dem Fenster sah und zu meinem Staunen und Entsetzen bemerkte, daß meine Frau auf der Straße stand und mich fest ins Auge gefaßt hatte. Ich stieß einen Schrei der Überraschung aus, erhob die Hände, um mein Gesicht zu verhüllen, und stürzte zu dem Wirt, meinem Vertrauten, um ihn anzuflehen, doch ja niemand einzulassen. Wohl hörte ich ihre Stimme von unten, doch wußte ich, daß sie nicht heraufkommen könne. Schnell warf ich meine Kleider von mir, zog mein Bettlergewand an, schminkte mich und stülpte die Perücke auf. Selbst das Auge der eigenen Frau vermochte diese vollständige Verwandlung nicht zu durchschauen. Aber dann fiel mir ein, daß das Zimmer durchsucht werden und die Kleider mich verraten könnten. Eilig riß ich das Fenster auf, und bei dieser heftigen Bewegung öffnete sich eine kleine Wunde wieder, die ich mir an jenem Morgen in meinem Schlafzimmer zugezogen hatte. Dann ergriff ich meinen Rock, beschwerte ihn mit den Kupfermünzen, die ich aus der Ledertasche nahm, in der ich mein Erworbenes wegzutragen pflegte, und schleuderte ihn zum Fenster hinaus, wo er in der Themse verschwand. Die anderen Kleidungsstücke sollten folgen, aber im selben Augenblick hörte ich von der Treppe her das Nahen von Schutzleuten, und wenige Minuten nachher wurde ich zu meiner großen Erleichterung, ich muß es bekennen, anstatt als Neville St. Clair erkannt zu werden, als dessen Mörder festgenommen.
Es wird wohl kaum weiterer Aufklärungen bedürfen. Ich war fest entschlossen, meine Maske so lange als möglich beizubehalten, und daher also kam meine Vorliebe für das schmutzige Gesicht. Da ich wohl wußte, daß meine Frau entsetzlich in Angst sein würde, zog ich meinen Ring ab und vertraute ihn dem Malaien in einem Augenblick an, als mich gerade kein Polizeimann beobachtete, zugleich mit einem eiligst beschriebenen Fetzen Papier an meine Frau, der ihr sagen sollte, daß kein Grund zur Sorge vorliege.«
»Dieser Zettel erreichte sie erst gestern«, sagte Holmes.
»Großer Gott! Welche angstvolle Woche muß sie verbracht haben!«
»Die Polizei hat den Wirt bewacht«, erklärte der Wachtmeister, »und ich kann mir wohl denken, daß es ihm schwer genug geworden ist, den Brief unbeobachtet zur Post zu bringen. Wahrscheinlich hat er ihn irgend einem Matrosen seiner Kundschaft übergeben, der ihn wohl ein paar Tage lang vergessen haben mag.«
»Ja, ja,« sagte Holmes mit zustimmendem Kopfnicken, »ohne Zweifel war es so. Doch, sind Sie nie wegen Bettelns belangt worden?«
»Freilich, oftmals; aber was kümmerte mich eine Geldstrafe?«
»Doch hiemit muß es nun ein für allemal vorbei sein«, sagte Bradstreet. »Soll die Polizei diese Geschichte tot schweigen, so darf es keinen Hugo Boone mehr geben.«
»Das habe ich mir selbst bei dem heiligsten Eide, den ein Mann leisten kann, zugeschworen.«
»In diesem Falle halte ich es für wahrscheinlich, daß keinerlei weitere Schritte geschehen werden. Doch sollten Sie je wieder beim Betteln betroffen werden, dann muß alles an den Tag kommen. Ihnen, Herr Holmes, sind wir für Aufklärung der Sache zu großem Dank verpflichtet. Es würde mich interessieren zu erfahren, wie und auf welchem Wege Sie zu Ihren merkwürdigen Schlußfolgerungen gelangten.«
»Zu den vorliegenden bin ich dadurch gelangt, daß ich mich auf fünf Kissen setzte und eine gute Portion Tabak verrauchte. – Wir wollen jetzt nach der Bakerstraße fahren, Watson, ich denke, wir kommen gerade noch recht zum Frühstück.«
Die Geschichte des blauen Karfunkels
(The Blue Carbuncle - 1892)
Am zweiten Tage nach Weihnachten sprach ich vormittags bei meinem Freunde Sherlock Holmes vor, um ihm meine Glückwünsche zum Feste darzubringen. Ich traf ihn in einem purpurroten Schlafrock auf dem Sofa liegend, die lange Pfeife neben sich, ganz begraben unter einem Stoß von Morgenzeitungen. Neben dem Sofa stand ein Holzstuhl, an dessen Lehne ein ruppiger, unappetitlicher steifer Filzhut, an mehreren Stellen eingedrückt und längst nicht mehr gebrauchsfähig, aufgehängt war. Ein Vergrößerungsglas und eine Pinzette auf dem Sitz des Stuhles deuteten an, daß der Hut zum Zweck seiner Untersuchung dort hing.
»Du bist beschäftigt«, sagte ich. »Ich störe dich vielleicht?«
»Durchaus nicht. Es ist mir im Gegenteil ganz erwünscht, mit einem guten Bekannten über die Ergebnisse meiner Untersuchung sprechen zu können. Der Gegenstand ist ein ganz alltäglicher« – dabei deutete er mit dem Daumen nach dem alten Hut hin –, »aber die weiteren Umstände, die mit demselben im Zusammenhang stehen, sind nicht ganz uninteressant, ja sogar einigermaßen lehrreich.«
Ich setzte mich in seinen Armstuhl und wärmte mir die Hände an seinem prasselnden Feuer, denn es war