»Die Bewohner dieses Landes gehen nackt, nur die Körperteile, wie gesagt, deren Anblick die Scham verletzt, bedecken sie mit einem Tuch. Der König geht wie alle anderen und unterscheidet sich nur durch seinen Schmuck, nämlich ein Halsband von Saphiren, Smaragden und Rubinen von unschätzbarem Wert. Um den Hals trägt er eine schöne Seidenschnur, die bis zur Brust reicht und mit einhundertvier kostbaren Perlen und Rubinen besetzt ist. Mit dieser Zahl hat es folgende Bewandtnis: So oft muss der König täglich einen Gebetsspruch wiederholen, wie seine Vorgänger es taten und wie es seine Religion befiehlt. Dieses Gebet lautet: Pacauca, Pacauca, Pacauca, einhundertviermal. Er trägt an jedem Arm, an drei verschiedenen Stellen, ein goldenes Armband, auch mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, an drei verschiedenen Stellen der Beine ebenso verzierte Bänder von Gold und schließlich Ringe an seinen Fingern und Zehen, und das ist wunderbar anzusehen und unschätzbar wertvoll. Freilich kann er leicht diesen Glanz entfalten, da alles Kostbare aus dem Lande kommt.« (Marco Polo über Java (Sumatra?) und Indien, in: DGEE 1, 111).
Eine große Verbreitung konnten die Schriften Marco Polos jedoch erst nach der Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern finden, als die mit Holzschnitten versehenen Berichte maßgeblich das Bild, welches der Westen von Asien haben sollte, prägten. Die Begrenzung Europas wird am Ende des Lebens von Polo deutlich, als der Venezianer Marco Polo im Krieg gegen Genua dort in Gefangenschaft geriet und hier seine Memoiren niederschrieb. Die kleinräumige Konkurrenz der ersten Kolonialmächte lähmte beide gegenseitig.
Marco Polo und andere Reisende, wie die Franziskaner Giovanni del Pian del Carpini (Reise 1245-48), Wilhelm von Rubruk (Reise 1253-1255) und Giovanni die Montevorvino (Reise 1294-1328) bleiben aber also deswegen so wichtig, weil ihre mit Illustrationen geschmückten Texte von abnormalen Menschen, mit nur einem Auge im Kopf, ganz ohne Kopf, nur einem Fuß oder einer Brust bis in das ausgehende 19. Jahrhundert die Erwartungswelt der Entdecker prägte. Holzschnitte, Druckgraphiken und später Fotos bis 1900 bilden immer wieder Menschen mit Abnormitäten ab, deren Existenz als Beweis für das Exotische in der außereuropäischen Welt gesehen wurde.
3. Die Bedingungen: Der Beginn der umfassenden europäischen Expansion nach Übersee
Die Vorstellungen von Asien im Mittelalter
Sieht man von der Iberischen Halbinsel und Teilen Italiens ab, beruhte das Bild, welches man von der außereuropäischen Welt hatte, nicht auf Erfahrung, sondern allein auf ungeprüfter Lektüre und hinzugedichteten Vorstellungen. Die Autoritäten waren die antiken Schriftsteller, und hinzu kam alles das, was man in der Bibel dem Thema außereuropäische Welt zuordnete. Die Söhne Noahs setzte man daher mit den drei bekannten Weltteilen, also Asien, Europa und Afrika gleich. Da nun Noah seinen Sohn Ham, der mit Afrika gleich gesetzt wurde, verflucht hatte, hielt sich bis in das 19. Jahrhundert die Überzeugung, dass Afrika von Gott verflucht sei. Auf der anderen Seite war man davon überzeugt, dass die islamische Welt von Christen umschlossen sei, man also durch die islamischen Länder hindurch expandieren müsse, um dann die christlichen Geschwister auf der anderen Seite der Welt zu finden. Diese Gerüchte erhielten durch drei christliche Gruppen, die es in Asien und Afrika gab, neue Nahrung. Einmal gab es die Thomaschristen, die um 300 n. Chr. nach Indien gelangt waren, dann die so genannten Nestorianer, die einer verurteilten christlichen Lehre anhingen und teilweise nach China gezogen waren und schließlich in Afrika die Äthiopier, die man mit dem sagenhaften Priesterkönig »Johannes« in Verbindung brachte, was vermutlich lediglich eine Verballhornung des Titels »Negus« des äthiopischen Königs darstellte.
Diese Ideenwelt gab sich aber mit den verschiedenen Reiseberichten zufrieden. Zu einer Expansion im großen Stil kam es hingegen noch nicht. Über die geistesgeschichtlichen Gründe, warum am Ende des 15. Jahrhunderts so konzentriert der Ausgriff nach Außereuropa stattfand, ist viel spekuliert worden, so dass sich auch hier nur einzelne Erklärungsansätze nachzeichnen lassen.
Als 1346 -1349 eine aus Asien eingeschleppte Pestwelle über Europa hinweg zog, führte dies zu einem erheblichen Bevölkerungsverlust. Dies war das erste Mal, das eine Krankheit aus einem anderen Kontinent zu einem nie da gewesenen demographischen Einbruch führte. Der Tod von Millionen Menschen hatte zunächst den Verlust der Wirtschaftskontakte mit Asien durch die gesunkene Nachfrage zur Folge. Andererseits entwickelte sich aus der Krise eine neue Sicht des Menschen.
Die Parler, von Eyck und das burgundische Erbe
Als Kaiser Karl IV. aus dem Haus der Luxemburger im Jahr 1347 eine Reise nach Paris unternahm, war dies nicht nur ein Besuch eines Hofes, welcher schon bei der Namensgebung für ihn wichtig gewesen war, sondern auch der eines Hofes, welcher in kultureller Hinsicht Standards setzte. Frankreichs Hofkultur litt zwar unter den Folgen des noch zu spürenden Hundertjährigen Krieges gegen England, allein man hatte umfangreiche Anstrengungen unternommen, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Gerade in dieser Zeit entstanden prächtige Chroniken und herausragende Kodizes, die Tres riches heures des Herzogs von Berry seien hier nur als ein Beispiel genannt. Diese Werke stellten nicht allein künstlerische Meisterleistungen dar, sondern waren gleichsam eine Verherrlichung ihrer Auftraggeber, die sich nicht zu Füßen von Heiligen, nicht in Anbetungspose, sondern vielmehr selbstbewusst darstellen ließen. Aus diesen noch kleinen ersten Porträts erwuchs schnell der Wunsch, sich auch größer darstellen zu lassen. So entstanden die ersten Porträts, die in Paris hingen. Sie sind zwar heute verloren, doch verdanken wir eben jener Reise Kaiser Karls nach Paris die Kenntnis ihrer Existenz.
Zunächst vornehmlich als Profilansichten gestaltet, nahm Kaiser Karl die Idee, sich selbst abbilden zu lassen, mit nach Prag und fand hier ihren Niederschlag in den Büsten der Parler (verzweigte Baumeister- und Bildhauerfamilie) im Veitsdom. In Prag blieb diese Innovation genauso wenig isoliert wie in Frankreich, sondern gelangte in einem niederländisch-portugiesisch-italienischen Austausch auch in weitere Länder, die aber ihrerseits auch die Entwicklungen in Zentraleuropa beeinflussten. In den Niederlanden und Italien können die vielfältigen Darstellungen des »Selbst« ein Zeugnis dafür ablegen, wie der Mensch sich selbst »entdeckt« hatte, wie man sich als herausragend wahr nahm und eben diese Wahrnehmung zur Grundlage einer neuen Weltsicht wurde. Diese »Entdeckung« des »Ich« ist für den Aufbruch in außereuropäische Gebiete von herausragender Bedeutung.
Hinzu kam die Bedeutung des länderübergreifenden Handels, bei denen neben den Mittelmeeranrainern auch die Niederlande eine wichtige Rolle spielten. Für die italienischen Kaufleute, die ja seit dem 13. Jahrhundert bis weit in den russischen und arabischen Raum Handel trieben, schien eine weitere Expansion, besonders aber auch die Bereitschaft, einen gewissen Betrag als Risikokapital in der Aussicht auf große Einnahmen einzusetzen, verlockend. In diesem Zusammenhang wurde wichtig, dass man auch für den Kontinentalhandel mit der Arabischen Welt über die Seidenstraße mehr Gold brauchte. Da nämlich die islamische Welt ab dem 15. Jahrhundert Gold dem bisher im innereuropäischen Handel vorherrschenden Silber vorzog, wurde es nötig, die Goldreserven aufzustocken.
Ebenso wichtig war schließlich die in der Renaissance einsetzende Neuentdeckung der Antike. Besonders im Umkreis der Eroberung von Konstantinopel 1453 kam es zu einer umfassenden Rezeption antiker lateinischer wie griechischer Schriftsteller. Diese Neugierde und die Fragen, die man hatte, experimentell zu beantworten, kann als ein weiterer Punkt für das Aufkommen der Entdeckungsfahrten ausgemacht werden. Es ist bekannt, dass Christoph Columbus, Lacelotto Maloncello oder Giovanni Caboto viele Ideen aus der Rezeption antiker Texte zogen oder aus Werken, die auf der Antikenrezeption beruhten, wie die Imago Mundi des Pierre d’Ailly oder die Historia Rerum Ubique Gestarum des Enea Silvio Piccolomini.
Neben diesen geistesgeschichtlichen Grundlagen