»Deswegen komme ich, werte Herren,« sagte sie mit einem tiefen Knix, »der goldene Trauring in der Brixtonstraße gehört meiner Tochter Sally; erst seit elf Monaten ist sie verheiratet und wenn ihr Mann nach Hause kommt – er ist nämlich Proviantmeister auf einem Uniondampfer – und sie hat ihren Ring nicht mehr, da giebt’s ein Donnerwetter. Schon an guten Tagen ist er sehr kurz angebunden, besonders wenn er getrunken hat. Das kam nämlich so: gestern abend war sie im Zirkus mit –«
»Ist das der verlorene Ring?« fragte ich.
»Unser Herrgott sei gepriesen,« rief die Alte. »Wie wird sich Sally freuen. Ja, das ist ihr Ring.«
Ich griff nach einem Bleistift: »Wo wohnen Sie?«
»In Houndsditch, Dunkanstraße 13. Ein weiter Weg von hier.«
»Wenn man von Houndsditch in den Zirkus will, kommt man nicht durch die Brixtonstraße,« mischte sich hier Sherlock Holmes in das Gespräch.
Die Alte warf ihm einen scharfen Blick aus ihren kleinen, rotgeränderten Augen zu. »Der Herr hat mich nach meiner Adresse gefragt. Sally wohnt in Peckham auf dem Mayfield-Platz Nummer 3.«
»Und Sie heißen? –«
»Mein Name ist Sawyer, – sie heißt Dennis weil sie Tom Dennis geheiratet hat. Ein wackerer, sauberer Bursche, solange er auf See ist; kein Proviantmeister gilt mehr bei den Herren von der Dampfschiffsgesellschaft. Aber, kommt er ans Land, so thun’s ihm die Weiber an und die Branntweinschenken und –«
»Hier ist Ihr Ring, Frau Sawyer,« unterbrach ich sie auf ein Zeichen meines Freundes; »er gehört ohne Zweifel Ihrer Tochter, und ich freue mich, ihn der rechtmäßigen Eigentümerin zustellen zu können.«
Allerlei Dankesworte und Segenswünsche murmelnd, versenkte die Alte den Ring in ihre Tasche und schlürfte wieder zur Thüre hinaus und die Treppe hinunter. Kaum war sie fort, so sprang Sherlock Holmes vom Stuhle auf und verschwand in sein Schlafzimmer. Eine Minute später erschien er wieder mit Hut und Ueberrock. »Ich gehe ihr nach,« sagte er, »sie muß mit ihm unter einer Decke stecken und wird mir auf meine Spur verhelfen. Bitte, bleiben Sie auf, bis ich wieder da bin.«
Als Holmes die Treppe hinunter ging, hatte sich die Hausthür eben hinter der Alten geschlossen. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie sie sich langsamen, schlürfenden Schrittes entfernte, während ihr Verfolger auf der andern Straßenseite hinterdrein schlich. »Entweder ist seine ganze Theorie falsch,« dachte ich bei mir, »oder es wird ihm jetzt gelingen, das Rätsel zu lösen.«
Es hätte der Aufforderung, daß ich seine Rückkunft abwarten möchte, nicht bedurft, denn von Schlaf konnte bei mir keine Rede sein, bis ich wußte, wie sein Unternehmen abgelaufen wäre. Als er sich auf den Weg machte, war es fast neun Uhr; ich steckte mir eine Pfeife an und blätterte in einem französischen Roman. Es schlug zehn, und ich hörte wie das Dienstmädchen zu Bett ging; um elf Uhr kam die Wirtin durch den Korridor, um sich zurückzuziehen; erst kurz vor Mitternacht knarrte drunten der Schlüssel in der Hausthür.
Als Holmes bei mir eintrat, sah ich es ihm gleich an, daß er kein Glück gehabt hatte. Verdruß und heitere Laune stritten in seinen Gesichtszügen um die Herrschaft, bis schließlich letztere die Oberhand behielt und er in ein herzliches Gelächter ausbrach.
»Um nichts in der Welt möchte ich, daß die Geheimpolizisten von meinem Erlebnis Wind bekämen,« rief er, und sank auf einen Stuhl. »Ich habe sie so oft gehänselt, daß sie froh wären, sich einmal schadlos halten zu können. Da ich aber weiß, daß ich ihnen am Ende aller Enden doch den Rang ablaufe, lache ich trotz alledem.«
»Was ist denn geschehen?« fragte ich.
»Sie sollen die ganze Geschichte hören, wie wenig sie mir auch zum Ruhm gereicht: Die Person war erst eine kleine Strecke weit gegangen, da fing sie an zu hinken und konnte allem Anschein nach nicht mehr vom Fleck. Sie blieb stehen und winkte eine vorüberfahrende Droschke herbei. Um die Adresse zu hören, lief ich näher herzu, doch das hatte ich mir sparen können. ›Nach Houndsditch, Dunkanstraße 13‹, rief sie, daß es weithin schallte. Kaum war sie eingestiegen, so sprang ich hinten auf; das ist eine Kunst, in der jeder Detektiv gründlich bewandert sein sollte. Fort rasselte die Droschke in gleichmäßiger Geschwindigkeit. Schon ehe sie das Ende der Fahrt erreichte, war ich abgesprungen und schlenderte gemächlich die Straße hinunter. Jetzt hielt der Kutscher, er stieg vom Bock, öffnete die Wagenthür und wartete. Aber es kam niemand heraus. Als ich näher trat, sah ich ihn wie wild in der leeren Droschke herumfahren, wobei er die kräftigsten Verwünschungen hören ließ, die mir je zu Ohren gekommen sind. Von der Insassin war keine Spur mehr zu sehen, und ich fürchte, er wird lange auf sein Fahrgeld warten müssen. Das Haus Nummer 13 gehört, wie ich erfuhr, einem ehrsamen Tapezierer Namens Keswig, von einer Frau Sawyer oder Frau Dennis aber wußte kein Mensch dort etwas.«
»Sie wollen doch nicht behaupten,« rief ich starr vor Staunen, »daß das alte, gebrechliche Weib aus dem Wagen gesprungen ist, während er in voller Bewegung war, und daß weder der Kutscher noch Sie etwas davon gemerkt haben?«
»Zum Henker mit dem alten Weibe,« rief Holmes ärgerlich. »Die alten Weiber waren wir, daß wir uns so anführen ließen. Es muß ein junger, noch dazu ein sehr gelenkiger Mensch gewesen sein und ein vollendeter Schauspieler. Die Verkleidung war ganz vorzüglich! Ohne Zweifel hatte er den Verfolger bemerkt und war auf dies Mittel verfallen, mir zu entwischen. Es ist ein Beweis, daß der Mann, den wir suchen, nicht so allein steht, wie ich glaubte, sondern Freunde hat, die sich im Notfall nicht scheuen, um seinetwillen ein Wagnis zu unternehmen. Nun gehen Sie aber schnell zu Bett, Doktor, Sie sehen ganz abgemattet aus.«
Ich war in der That todmüde und folgte seinem Rat. Holmes blieb bei dem glimmenden Feuer sitzen, und noch bis tief in die Nacht hinein hörte ich die schwermütigen Klänge seiner Geige und wußte, daß er fort und fort das seltsame Problem in seinem Haupte wälzte, dessen Lösung er sich nun einmal vorgesetzt hatte.
6. Tobias Gregson thut große Thaten
Tags darauf waren alle Zeitungen voll von dem ›Brixton-Geheimnis‹, wie sie es nannten. Viele brachten außer einem langen Bericht noch Leitartikel darüber. Sie erzählten mancherlei, was mir neu war, und ich bewahre in meiner Brieftasche eine ganze Sammlung von Ausschnitten und Auszügen über den Fall. Das Wesentlichste lasse ich hier folgen:
Der ›Daily Telegraph‹ behauptete, daß die Verbrecherchronik nur wenige Tragödien aufzuweisen habe, die von so seltsamen Umständen begleitet seien. Der deutsche Name des Opfers, der Mangel jedes Beweggrunds, die furchtbare Schrift an der Wand, ließen deutlich erkennen, daß die That im Auftrag der Revolutionspartei begangen worden. Die Sozialisten besäßen weitverzweigte Verbindungen in Amerika, wahrscheinlich habe der Ermordete eines ihrer ungeschriebenen Gesetze übertreten und sei dafür zum Tode verurteilt worden. Der Artikel schloß damit, die Regierung zu ermahnen, sie möge ein wachsames Auge auf die Ausländer haben, die nach England kämen.
Der ›Standard‹ klagte, dergleichen Gewaltthätigkeiten seien die traurigen Früchte einer freisinnigen Regierung, welche die Massen aufsässig mache und alle Autorität untergrabe. »Der Verstorbene,« hieß es weiter, »ein Herr aus Amerika, hielt sich längere Zeit in London auf, und zwar in der Privatpension von Madame Charpentier in Torquay Terrace, Camberwell. Er reiste in Begleitung seines Privatsekretärs Joseph Stangerson. Letzten Dienstag, den 4. des Monats, verabschiedeten sich beide von ihrer Wirtin und fuhren nach dem Eustoner Bahnhof, mit der ausgesprochenen Absicht, den Schnellzug nach Liverpool zu benützen. Auch wurden sie dort noch zusammen im Wartesaal gesehen. Von da ab fehlen jedoch alle Nachrichten über sie, bis zu dem Augenblick, als Drebbers Leichnam, wie bereits mitgeteilt, in einem leeren Hause der viele Meilen vom Eustoner Bahnhof entfernten Brixtonstraße gefunden wurde. Wie er dorthin gekommen ist, und auf welche Weise ihn sein Verhängnis ereilt hat, sind Fragen, die