„Ihr wagt es, ihn anzugreifen? Wie könnt ihr eure Augen auf ihn werfen, wenn ich es Euch verboten habe? Zurück, sage ich Euch! Dieser Mann gehört mir! Hütet Euch davor, ihn mir nehmen zu wollen, oder ihr habt es mit mir zu tun.“ Das schöne Mädchen antwortete mit einem frechen und koketten Lachen:
„Du hast selbst nie geliebt, und wirst niemals lieben!“ Darauf kamen die beiden anderen Mädchen herbei, und es ertönte ein so freudloses, hartes und seelenloses Lachen, das mich fast ohnmächtig werden ließ; es schien, als scherzten Teufel. Dann drehte sich der Graf um, sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte sanft flüsternd:
„Ja, auch ich kann lieben; Ihr könnt selbst davon aus vergangenen Tagen erzählen. Ist es nicht so? Gut, ich verspreche Euch, wenn ich mit ihm fertig bin, könnt Ihr ihn nach Belieben küssen. Aber jetzt geht! Geht! Ich muss ihn aufwecken, denn es gibt noch einiges zu erledigen.“
„Und sollen wir heute Abend leer ausgehen?“, sagte eine von ihnen mit leisem Lachen und zeigte auf ein Bündel, das er auf die Erde geworfen hatte und das sich bewegte, als befände sich etwas Lebendiges darin. Zur Antwort nickte er mit dem Kopf. Eines der Mädchen sprang zu dem Bündel und öffnete es. Wenn meine Ohren mich nicht täuschten, hörte ich das Keuchen und leise Jammern eines halb erstickten Kindes. Die Mädchen umkreisten es, während ich bestürzt vor Schrecken war. Aber als ich näher hinsah, verschwanden sie und mit ihnen das schreckliche Bündel. Es befand sich keine Tür in ihrer Nähe, und an mir konnten sie nicht unbemerkt vorbeigekommen sein. Sie schienen einfach in den Strahlen des Mondes zu zerfließen und durch das Fenster zu entweichen, denn ich konnte außen noch ihre schemen- und schattenhaften Umrisse für einen Augenblick erkennen, ehe sie gänzlich verschwanden.
Dann überwältigte mich der Horror, und ich sank bewusstlos nieder.
VIERTES KAPITEL
DAS TAGEBUCH VON JONATHAN HARKER
– Fortsetzung -
Ich wachte in meinem eigenen Bett auf. Wenn es so ist, dass ich nicht alles geträumt hatte, dann muss mich der Graf hierher getragen haben. Ich versuchte, mich diesbezüglich zu beruhigen, konnte aber zu keinem eindeutigen Resultat kommen. Zwar gab es gewisse und kleine Anzeichen: So etwa, dass meine Kleider in einer Weise gefaltet und neben mein Bett gelegt waren, wie ich es nicht zu tun pflege. Meine Uhr war noch nicht aufgezogen, und es ist doch eine von mir stets peinlich genau eingehaltene Gewohnheit, dies zu tun, bevor ich zu Bett gehe. Und mehrere solche Details. Aber all diese Dinge sind kein Beweis, denn sie könnten ebenso gut die Vermutung bestätigen, dass mein Verstand nicht wie sonst war, und dass ihn aus diesem oder jenem Grunde irgendetwas in Unordnung gebracht hatte. Ich muss auf einen Beweis warten. Über eines jedoch bin ich froh: Wenn es der Graf war, der mich hierher brachte und entkleidete, so muss er es mit großer Eile gemacht haben, denn meine Taschen waren unberührt. Ich bin mir sicher, dass ihm das Tagebuch ein Rätsel gewesen wäre, welches er nicht toleriert hätte. Er hätte es mir sicher weggenommen oder vernichtet. Wenn ich mich in diesem Zimmer umsehe, obwohl es bisher für mich so voll von Schrecken war, ist es mir jetzt ein Zufluchtsort geworden. Denn nichts kann fürchterlicher sein als diese unheimlichen Frauen, die darauf warteten – und noch warten – mein Blut zu trinken.
18. Mai. – Ich war wieder unten, um das Zimmer im Tageslicht zu sehen; ich muss die Wahrheit herausfinden. Als ich zum Eingang am Ende des Stiegenhauses kam, fand ich das Zimmer verschlossen vor. Die Tür war so gewaltsam gegen den Rahmen gedrückt worden, dass Teile der Holzumrahmung abgesplittert waren. Ich konnte bemerken, dass der Riegel nicht vor geschoben war, aber die Türe war innen mit irgendetwas festgemacht. Ich fürchte, es war doch kein Traum, und werde auf Grund dieser Vermutung handeln müssen.
19. Mai. – Ich bin am Arbeiten. Letzte Nacht bat mich der Graf in den mildesten Tönen, drei Briefe zu schreiben. In einem sollte ich sagen, dass meine Arbeit hier nahezu getan sei, und dass ich in wenigen Tagen die Heimreise antreten werde; im zweiten Brief, dass ich am folgenden Tag abzureisen gedenke; und den dritten, dass ich das Schloss verlassen hätte und in Bistritz angekommen sei. Ich hätte gerne aufbegehrt, fühlte aber, dass es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge Wahnsinn wäre, offen gegen den Grafen zu kämpfen, in dessen absoluter Gewalt ich doch war; und ihm etwas abzulehnen, hätte nur seinen Argwohn stimuliert und seinen Zorn geweckt. Es ist ihm klar, dass ich zuviel weiß, und ich nicht leben darf, da ich ihm gefährlich werden könnte; meine einzige Chance besteht darin, meine Möglichkeiten zu erweitern. Vielleicht bietet sich mir doch irgendeine Möglichkeit zur Flucht. Ich sah in seinen Augen den Grimm wachsen, der in ihm gelodert hatte, als er die schöne Frau von sich wegstieß. Er erklärte mir den seltsamen Briefverkehr damit, dass die Post selten und unregelmäßig ging, und dass meine Freunde meine Nachrichten leichter erhielten, wenn ich gleich jetzt schreibe; und er versicherte mir eindrucksvoll, dass mein letzter Brief – der von Bistritz datierte – dort bis zur fälligen Zeit behalten würde, und man ihn nicht abschicken werde, wenn ich etwa meinen Besuch zu verlängern gedächte. Ihm dabei zu widersprechen, hätte neue Verdachtsmomente gegen mich aufgeworfen. Daher sagte ich, dass ich vollkommen seiner Ansicht sei, und fragte ihn, welches Datum ich auf die jeweiligen Briefe setzen sollte. Er rechnete eine Minute und dann antwortete er:
„Auf den ersten Brief 12. Juni, auf den zweiten 19. Juni und auf den dritten 29. Juni.“
Ich weiß nun, wie lange ich noch zu leben habe. Gott, hilf mir!
28. Mai. – Es gibt doch eine Fluchtmöglichkeit oder wenigstens die Hoffnung, ein paar Worte nach Hause zu schicken. Eine Bande von Szgany ist ins Schloss gekommen, und sie errichteten ein Lager im Hof. Es sind Zigeuner; Ich habe einige Notizen über sie in meinem Buch. Sie sind fremdartig in diesen Landstrich, aber verwandt mit den gewöhnlichen Zigeunern, die über die ganze Welt zerstreut sind. Es gibt Tausende von ihnen in Ungarn und Transsylvanien, denen in den meisten Fällen kein Schutz durch das Recht zukommt. Sie stellen sich daher in der Regel unter die Schirmherrschaft eines Edelmannes oder Bojaren, dessen Namen sie dann annehmen. Sie sind ohne Angst und ohne Religion außer ihrem Aberglauben, und sprechen fast ausschließlich ihre eigene Zigeunersprache.
Ich will einige Briefe nach Hause schreiben und versuchen, sie von den Zigeunern aufgeben zu lassen. Ich habe mit ihnen schon durch mein Fenster gesprochen und Bekanntschaft mit ihnen geschlossen. Sie nahmen ihre Hüte ab, machten eine Verbeugung und mir Zeichen, die ich aber genauso wenig verstand wie ihre Sprache…
Die Briefe habe ich geschrieben. Der an Mina ist stenographiert, und Herrn Hawkins bat ich, mit Mina in Kontakt zu treten. Ich habe ihr meine Lage klar geschildert, aber ohne den Schrecken zu erwähnen, den ich mir vielleicht doch nur einbilde. Es würde sie zu Tode schockieren und entsetzen, wenn ich ihr mein Herz ausschütten wollte. Sollten die Briefe nicht befördert werden, so soll der Graf wenigstens nicht mein Geheimnis und das Ausmaß meiner Erfahrungen wissen.
Ich habe die Briefe abgegeben; ich übergab sie, zusammen mit einem Goldstück, den Zigeunern durch die Gitter meines Fensters und machte ihnen Zeichen, dass die Briefe aufgegeben werden sollten. Der Mann, der sie an sich nahm, drückte sie an sein Herz, verbeugte sich und steckte sie dann unter seine Kappe. Mehr konnte ich nicht tun. Ich stahl mich ins Lesezimmer zurück und begann zu lesen. Solange der Graf nicht hier ist, schreibe ich hier weiter…
Der Graf ist gekommen. Er setzte sich neben mich und sagte in der ruhigsten Weise, während er zwei Briefe öffnete:
„Das Szganys haben mir das gegeben, von dem ich nicht weiß, woher es stammt, aber Kenntnis davon nehmen sollte. Sehen Sie!“ – er musste die Briefe angesehen haben – „einer ist von Ihnen und an meinen Freund Peter Hawkins adressiert; der andere“ – er bemerkte beim Öffnen die ihm fremden Zeichen, ein finsterer Zug trat in sein Antlitz, und seine Augen funkelten bösartig