Felix Salten
Das österreichische Antlitz: Essays
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066112400
Inhaltsverzeichnis
DIE WIENER STRASSE
Der alte Herr schreibt in sein Tagebuch:
Ein wunderschöner Tag ist das heute gewesen. Voller Sonnenglanz und Wärme, und in den Straßen hat es überall nach Veilchen geduftet. Daß ich heute gerade sechzig Jahre alt geworden bin, möchte mich freilich herabstimmen. Aber ich kann mir nicht helfen, ich bin ganz gut gelaunt. Und ich finde, es ist sehr hübsch, im Frühling Geburtstag zu haben, wenn es so warm wird, und wenn die Straßen nach frischen Blumen riechen. Was will man denn mehr? Ich bin spazieren gegangen, wie gewöhnlich. Zuerst durch die Innere Stadt, dann bei der Oper auf den Ring hinaus und wieder zurück. Dann bin ich noch im Kaffeehaus gewesen.
Also sechzig Jahre. Am liebsten würde ich mit Stillschweigen darüber weggehen; weil es aber schon so lange meine Gewohnheit ist, daß ich bei solchen Anlässen gewissermaßen den Jahresschluß ziehe, und ein bisserl was aufschreibe von dem, was ich mir denke, will ich es auch heute nicht versäumen. Obwohl … Denn viel habe ich ja kaum zu sagen. Da liegen in der Lade die Bogen aus all den Jahren, und wenn ich sie jetzt durchlesen wollte, würde vielleicht immer dasselbe drinnen stehen. Ich habe ein sehr regelmäßiges Leben geführt, und wenn man ein Junggeselle ist, gibt es nicht viel Ereignisse. Es ist nur, daß ich jetzt eine gewisse Scheu habe, diese Blätter in die Hand zu nehmen. Sie könnten mich am Ende in eine sentimentale Verfassung bringen, und das hätte keinen Zweck. Ich bin von dem schönen Tag noch ganz angeregt.
Bald wird man auch wieder im Freien sitzen können. Auf dem Graben sind die zwei Kaffeehütteln schon hergerichtet; ein paar Tische sind sogar besetzt gewesen. Aber ich hab' es doch noch nicht riskiert. Es war übrigens nicht zum Vorwärtskommen heute, so viel Menschen sind in der Stadt herumgelaufen. Und was man für schöne Mädchen sieht, das ist eine wahre Freude. Man weiß gar nicht, welche man zuerst anschauen soll. Gleich in ganzen Rudeln marschieren sie auf. Und wie reizend ist das, diese vielen jungen, rosigen Gesichter, diese lachenden Augen! Seit vierzig Jahren gehe ich jetzt Tag für Tag denselben Weg durch die Innere Stadt und über den Ring und immer seh' ich diese vielen schönen Mädchen. Es ist unglaublich, wo die nur herkommen.
Allerdings, die bleiben ja auch nicht ewig jung. Das darf man sich nicht einbilden. Denn sonst müßte ich ganz allein alt werden, und dafür tät' ich mich doch schönstens bedanken. Aber das nimmt alles seinen geordneten Gang. Wenn man sich auch wundert. Ich hab' das an der Baronin Ruttersdorf gemerkt, wie ich sie heute gesehen habe. Gott, wie die ausschaut! Ganz schneeweiße Haare hat sie schon, und recht zusammengebrochen ist sie. Ich bin stehen geblieben und hab' ihr nachgeschaut. Seit dreißig Jahren zum erstenmal wieder.
Vor dreißig Jahren bin ich nämlich öfter stehengeblieben und hab' ihr nachgeschaut. Da ist sie ein junges Mädchen gewesen, und war schön. Mir wird heute noch ganz schwindelig, wenn ich daran denke, wie schön sie war. Damals habe ich sie rasend geliebt. Aber dieses Gefühl ist längst in mir erloschen. Ja, ja, ich habe so manches erlebt. Das heißt, persönlich gekannt habe ich sie natürlich nicht. Wie wäre das auch möglich gewesen? Ich war ein ganz kleiner Beamter. Ein noch viel kleinerer als ich heute bin. Und was werd' ich denn im Monat gehabt haben, vor dreißig Jahren? Sechzig oder siebzig Gulden; mehr gewiß nicht. Aber was will man …? Ein junger Mensch! Und so hat sie damals mein ganzes Dasein erfüllt. Ich hab' ganz genau gewußt, daß sie am Sonntag in die Schottenkirche geht, ich hab' gewußt, wann ich sie am Nachmittag in der Stadt treffe. Wenn ich jetzt die Bogen von damals hervornehmen möchte, da würde gar viel von ihr drin stehen. Ich weiß, wie ich ihr nachgegangen bin, und wie ich mir vorgestellt habe, ich werde auf einmal ein Millionär, oder ich werde in zwei Jahren Minister, oder ich schreibe ein Drama, und werde berühmt, so daß mich alle Leute anschauen, wenn ich über die Straße gehe, und daß sich alle Leute um mich reißen, und dann … na, und dann … Es war so wundervoll, sich das ganz genau vorzustellen, so lebendig, als ob es wirklich wäre, als ob es morgen schon sein könnte. Ich bin ganz eingesponnen gewesen in diese Träume und hab' ihnen viele glückliche Stunden zu verdanken.
Jetzt bin ich aber sechzig Jahre alt. Und sie ist eine alte Frau. Ich habe ihr ganzes Leben mit angeschaut. Damals war sie eine Komtesse Nußbach. Auch ihren Vater kannte ich, den alten General. Der hatte so schön dichte, weiße Haare wie jetzt seine Tochter. Dann hat sie den Baron Ruttersdorf geheiratet. Dann ist sie mit ihren Kindern spazieren gegangen. Was für reizende Kinder sind das gewesen, besonders der älteste Bub, der Ferdinand. Dann ist ihr Vater gestorben, und sie hat das Palais auf der Wieden geerbt. Dann hat ihr