Denkt man sich eine persönliche Schutzgöttin des Landes, so kann die durchmessene Wasserbahn allegorischerweise als ihr kristallener Gürtel gelten, dessen Schlußhaken die beiden alten Städtchen sind und dessen Mittelzier Zürich ist, als größere edle Rosette.
So haben Luzern oder Genf ähnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See und Fluß. Die Zahl dieser Städte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einen Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte tunlich sein indem man durch das angeführte, bestehende Beispiel das Gefühl der Wirklichkeit gewonnen hat, bleibt hinwieder dem Bedürfnisse der Phantasie größerer Spielraum, und alles Mißdeuten wird verhütet.
Unser See bildet scheinbar ein weites ovales Becken, welches aus den bläulichen Farbenabstufungen des umgebenden Gebirges nur ahnen läßt, daß in der Ferne da und dort das Wasser in Buchten ausläuft und in den verschiedenen Seitentälern neue Seen bildet. Aus dem Hintergrunde der klaren Gewässer steigt die mächtige Gletscherwelt empor, senkt sich dann, im Kranze um den See herum, zum flachern Gebirge herab, bis sich dieses in zwei schönen Bergen schließt, welche den mäßigen Strom zwischen sich durchtreten lassen, in das ebene Land hinaus. Am jenseitigen Berge, der seinen sonnigen runden Abhang, dem Süden zugewendet, aus dem See erhebt, liegt die Stadt hingegossen, fast von seinem Scheitel bis in das Wasser herunter, daß ihr steinerner Fuß sich noch in die spülende Flut hineintaucht. Vom diesseitigen Berge aber, welcher aus schroffen waldbewachsenen Felsen besteht, kann man in die Stadt hinein und hinüber schauen, wie in einen offenen Raritätenschrein, so daß die kleinen fernen Menschen, die in den steilen alten Gassen herumklimmen, sich kaum vor unserm Auge verbergen können, indem sie sich in ein Quergäßchen flüchten oder in einem Hause verschwinden. Es ist eine seltsame Stadt, mit einem altergrauen Haupte und neuen glänzenden Füßen. Denn der Verkehr und das tätige Leben haben unten am Ufer, wo die befrachteten Schiffe ab- und zugehen, nichts Altes und Unbequemes gelassen und die Steinmasse fortwährend erneuert, während das Alter sich am Berge hinaufflüchtete, mitten an demselben, auf einem platten Vorsprunge in der kühlen byzantinischen Stadtkirche ausruhte und oben zuletzt auf der halbzerfallenen Burg stehenblieb. Seinen innigen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Leben beweist es jedoch in den riesenhaften Burglinden, welche ewig grün ihre Aste zu einem mächtigen Kranze verschlingen hoch über der Stadt, unmittelbar unter dem Himmel. Wo der Fluß sich schon merklich verengt und seine eigene Strömung annimmt, steht noch ein malerisches festes Brückentor und sendet eine lange hölzerne Brücke herüber, bedeckt von einem altertümlichen Dache, dessen Gebälke mit Schnitzwerk und verblichenen Schildereien überladen ist. Diesseits empfängt sie wieder ein grauer Turm, und aus diesem hervor führen mehrere Wege, teils dem Flusse entlang nach der Fläche hinaus, teils auf jähen Steigen auf den Felsenberg. An dessen Mitte ragt ebenfalls ein beträchtliches Plateau hinaus; es trägt, wie es oft bei Flußstädten vorkommt, eine Art Anhängsel oder kleinern Teil der Stadt, bestehend aus einem Kastell und ehemaligen Kloster, deren innere Räume und Höfe vollständig mit Gräbern angefüllt sind, da sie der Stadt schon seit Jahrhunderten zum Kirchhofe dienen. Die Gebäude aber enthalten ein Irrenhaus, ein Armenhaus oder Hospital und dergleichen mehr. Seltsam und düster haben sich Tod und Elend zwischen dem alten winklichten Gemäuer eingenistet, aus dessen Dunkelheiten die herrliche schimmervolle Landschaft das Auge um so mehr blendet. Und über die Gräber hin führt der Weg dann vollends, sich durch efeubewachsene Nagelflühe emporwindend, auf den Berg, wo er sich in einem weitgedehnten prächtigen Buchenwalde verliert.
Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht.
Sowenig, außer dem tiefen ruhigen Strömen des Flusses, ein Ton in dieser Frühe hörbar wurde, ebensowenig war an der weiten tiefen himmlischen Kristallglocke der leiseste Hauch eines Wölkleins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe. Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern.
Indem unser Knabe starr nach ihm hinsah, tat er einen jener stummen, flüchtigen Gebetseufzer, die, wenn sie in Worte zu fassen wären, ungefähr so lauten würden Das ist sehr schön, o Gott ich danke dir dafür, ich gelobe, das Meinige auch zu tun! Wo und wer du auch seist, habe Nachsicht mit mir, du weißt, wie alles kommt in deiner Welt, übrigens mache mit mir, was du willst!
Die Brust des jungen Menschen hob und senkte sich sehr stark; aber seine Seele war so keusch, daß er vor allem pathetischen Verweilen, vor aller Selbstgefälligkeit solcher Augenblicke floh, ehe sich obige wenigen Sätze in seinem Sinne deutlich entwickeln konnten. Also drehte er sich wie der Blitz auf seinem Absatze herum und eilte, nach Norden und Westen zu schauen. Die Sonne war aufgegangen; während im Süden die Alpenkette nun im fröhlichsten hellsten Golde glänzte, hatte das westliche und nördliche flache Land, gegen das Rheingebiet hin, die Rosenfarbe des Morgens angenommen, besonders wo sich die laublosen, für diese Farbe empfänglichen Waldungen und violetten Brachfelder dehnten; was junggrünes Saatland war, schimmerte mehr silbergrau in der Ferne. Von Schnee war außer dem Gebirge keine Spur mehr zu finden; aber das wenige Grün war noch trocken und taulos.
Die Tiefe des Himmels und mit ihr das Gewässer waren jetzt blau und das Land sonnig geworden. Nur der untere Teil der Stadt und der Fluß lagen noch im Schatten, und letzterer ging tief grün, und bloß die länglich ziehenden Spiegel seiner Wellen warfen von ihren glattesten Stellen etwas Blau zurück.
Heinrich Lee sah in seine Vaterstadt hinüber. Die alte Kirche badete im Morgenschein, hie und da blitzte auch ein geöffnetes Fenster, ein Kind schaute heraus und sang, und man konnte aus der Tiefe der Stube die Mutter sprechen hören, die es zum Waschen rief. Die vielen Gäßchen, durch mannigfaltiges steinernes Treppenwerk unterbrochen und verbunden, lagen noch alle im Schatten, und nur wenige freiere Kinderspielplätze leuchteten bestreift aus dem Dunkel. Auf allen diesen Stufen und Geländern hatte Heinrich gesessen und gesprungen, und die Kinderzeit dünkte ihm noch vor der Türe des gestrigen Abends zu liegen. Schnell ließ er seine Augen treppauf und – ab in allen Winkeln der Stadt herumspringen, die traulichen Kinderplätze waren alle still und leer wie Kirchenstühle am Werktag. Das einzige Geräusch kam noch vom großen Stadtbrunnen, dessen vier Röhren man durch den Flußgang hindurch glaubte rauschen zu hören; die vier Strahlen glänzten hell, ebenso was an dem steinernen Brunnenritter vergoldet