Über allen Sorgen und Freuden, die ihm seine eigenen Sprößlinge bereiteten, vergaß Sir Thomas die Kinder seiner armen Schwägerin nicht. Er unterstützte sie großzügig bei der Erziehung und Versorgung ihrer Söhne, sobald diese alt genug waren, einen Beruf zu wählen. Obwohl Fanny von ihrer eigenen Familie fast völlig abgeschnitten war, empfand sie jedesmal tiefste Befriedigung, wenn sie von der Güte ihres Onkels gegenüber ihren Brüdern oder von einer günstigen Wendung in deren Leben hörte. Ein Mal, ein einziges Mal in all den Jahren, ward ihr das Glück zuteil, mit William zusammenzukommen. Die übrigen bekam sie nie zu Gesicht; niemandem schien es in den Sinn zu kommen, daß sie einmal die Ihrigen besuchen könnte, und daheim schien niemand nach ihr zu verlangen. Doch William, der sich bald nach ihrer Übersiedlung entschlossen hatte, zur See zu gehen, wurde eingeladen, eine Woche bei seiner Schwester zu verbringen, ehe er seinen Dienst antrat. Man kann sich die Zärtlichkeit des Wiedersehens, die Seligkeit des Beisammenseins, die Stunden übermütiger Fröhlichkeit und die Augenblicke ernsthafter Beratung, die es mit sich brachte, lebhaft ausmalen – die zuversichtliche Zukunftsfreude und strahlende Laune des Bruders bis zum letzten Augenblick und den Schmerz der Schwester, als er endgültig gegangen war. Zum Glück fiel der Besuch in die Weihnachtsferien, so daß sie sich wenigstens bei ihrem Vetter Edmund Trost holen konnte; und er erzählte ihr so bezaubernd von Williams künftigen Taten und Ehren, daß sie nach und nach einzusehen begann, daß die Trennung auch ihre guten Seiten haben könnte. Edmunds Freundschaft versagte nie. Auch als er Eton verließ, um nach Oxford zu gehen, änderte sich nichts an seiner Zuneigung, und er fand eher noch häufiger Gelegenheit, sie zu beweisen. Ohne je zu betonen, daß er mehr für sie tat als die übrigen Familienmitglieder, oder zu befürchten, daß er zuviel tun könnte, trat er stets treulich und mit großer Feinfühligkeit für Fanny ein. Er bemühte sich, die anderen von ihren wertvollen Eigenschaften zu überzeugen und gleichzeitig Fannys Schüchternheit zu überwinden, die das Zutagetreten dieser guten Eigenschaften erschwerte. Ihm verdankte sie Rat, Trost und Ermutigung.
Da sie von allen anderen zurückgesetzt wurde, reichte seine Unterstützung allein nicht aus, sie in die erste Reihe zu stellen, doch ansonsten waren seine Bemühungen von unschätzbarem Wert für die Ausbildung ihres Geistes. Er wußte, daß sie klug war und eine rasche Auffassung sowie Vernunft und Feingefühl besaß. Allein ihre Leseleidenschaft mußte, unter der richtigen Leitung, zu wahrer Bildung führen. Miss Lee lehrte sie Französisch und hörte ihr die tägliche Geschichtslektion ab, doch Edmund wies sie auf die Bücher hin, die ihre Mußestunden verzauberten; er bestärkte sie in ihrem Geschmack und gab ihr ein sicheres Urteil. Erst durch ihn wurde das Lesen zur nützlichen Beschäftigung, weil er mit ihr über das Gelesene sprach und die Schönheiten eines Buches ins rechte Licht setzte. Zum Dank dafür liebte sie ihn mehr als jeden anderen Menschen auf Erden, William ausgenommen. Ihr Herz war zwischen beiden geteilt.
3. Kapitel
Das erste wichtigere Familienereignis, das eintrat, als Fanny etwa fünfzehn Jahre zählte, war der Tod von Pastor Norris. Es brachte natürlich gewisse Veränderungen und Umstellungen mit sich. Mrs. Norris verließ das Pfarrhaus und übersiedelte zuerst ins Herrenhaus und später in ein kleines Haus im Dorf, das zu Sir Thomas’ Besitz gehörte. Über den Verlust ihres Gatten tröstete sie sich mit der Überlegung, daß sie eigentlich sehr gut ohne ihn auskam, und über die Verminderung ihres Einkommens mit der Einführung noch drastischerer Sparmaßnahmen.
Die Pfarre war von jeher für Edmund bestimmt; wäre sein Onkel einige Jahre früher gestorben, hätte man sie ordnungsmäßig durch irgendeinen befreundeten Geistlichen betreuen lassen, bis Edmund alt genug wäre, sein Amt anzutreten. Doch Tom hatte inzwischen bereits soviel Geld verschwendet, daß es sich als notwendig erwies, anderweitig über die Pfründe zu verfügen, und der jüngere Bruder mußte für den Leichtsinn des älteren büßen. Zum Familienbesitz gehörte noch eine zweite Pfarre, die auf Edmund wartete, und dieser Umstand erleichterte Sir Thomas’ Gewissen ein wenig. Doch er empfand diese Regelung als arge Ungerechtigkeit gegenüber seinem jüngeren Sohn und bemühte sich ernsthaft, dieses Gefühl auch dem älteren einzuprägen; davon erhoffte er sich einen nachhaltigeren Eindruck als von allem, was er sonst sagen oder tun könnte.
«Ich erröte für dich, Tom», sprach er mit seiner würdevollsten Miene. «Ich erröte, daß ich gezwungen bin, zu diesem Mittel zu greifen, und ich darf wohl annehmen, daß auch du tiefe Beschämung empfindest. Du hast deinen Bruder für zehn, zwanzig, dreißig Jahre, vielleicht für sein ganzes Leben, um mehr als die Hälfte der ihm zustehenden Einkünfte gebracht. In Zukunft mag es mir oder dir (wie ich hoffe) möglich sein, ihm das einträglichere Amt zurückzuerstatten, aber du darfst nie vergessen, daß damit nicht mehr als sein selbstverständlicher Rechtsanspruch erfüllt würde und daß ihn in Wirklichkeit nichts für das sichere Einkommen entschädigen kann, das er jetzt durch die Dringlichkeit deiner Schulden verliert.»
Tom hörte seinem Vater zwar mit einiger Zerknirschung zu, entschlüpfte ihm aber so rasch wie möglich und war in seinem erfreulichen Egoismus bald imstande, einige tröstliche Überlegungen anzustellen: erstens, daß er nicht halb soviel Schulden gemacht hätte wie einige seiner Freunde, zweitens, daß sein Vater sich doch gar zu langweilig über die Sache ausgelassen hätte, und drittens, daß der nächste Inhaber der Pfarre, wer immer er sein mochte, ja doch aller Wahrscheinlichkeit nach bald sterben würde.
Der Nachfolger von Pastor Norris wurde ein gewisser Dr. Grant, der sich in Mansfield niederließ und als kräftiger Mann von fünfundvierzig Jahren nicht gerade geneigt schien, die freundlichen Erwartungen des jungen Mr. Bertram zu
erfüllen. Aber nein, meinte der, so ein kurzhalsiger, schlagflüssiger Kerl, der sich mit allen guten Dingen vollstopfte, würde schon rechtzeitig abkratzen.
Dr. Grant besaß eine um etwa fünfzehn Jahre jüngere Frau, aber keine Kinder, und dem Eintreffen des Paares gingen die üblichen wohlwollenden Gerüchte voraus, daß sie höchst achtbare und angenehme Leute seien.
Nun war der von Sir Thomas erwartete Zeitpunkt gekommen, zu dem, wie er stets geglaubt hatte, seine Schwägerin ihren Anspruch auf ihre Nichte geltend machen würde. Mrs. Norris’ veränderte Umstände und Fannys reiferes Alter schienen nicht nur angetan, alle früheren Bedenken gegen ein Zusammenleben der beiden zu zerstreuen, sondern ließen es im Gegenteil als die vorzüglichste Lösung erscheinen; da Sir Thomas’ Vermögenslage nicht nur durch die Verschwendungssucht seines ältesten Sohnes, sondern auch durch kürzlich erlittene Verluste aus seinen westindischen Besitzungen einigermaßen gelitten hatte, wäre es ihm nicht unerwünscht gewesen, von den Kosten für Fannys Unterhalt und der Verpflichtung ihrer künftigen Versorgung entlastet zu werden. Er war so fest davon überzeugt, es werde bald zu dieser Veränderung kommen, daß er seine Frau auf diese Wahrscheinlichkeit vorbereitete; und da Fanny zufällig anwesend war, als die Sache Lady Bertram zum erstenmal wieder in den Sinn kam, bemerkte diese in aller Ruhe: «Jetzt wirst du uns also verlassen, Fanny, und bei meiner Schwester leben. Wie wird es dir dort gefallen?»
Fanny war derart überrascht, daß sie nur die Worte ihrer Tante zu wiederholen vermochte:
«Sie verlassen, Tante?»
«Ja, mein Kind, warum verwundert dich das? Du bist jetzt fünf Jahre bei uns gewesen, und meine Schwester hatte stets die Absicht, dich zu sich zu nehmen, wenn ihr Mann nicht mehr da wäre. Aber du mußt trotzdem immer herüberkommen