Mami Staffel 2 – Familienroman. Gisela Reutling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisela Reutling
Издательство: Bookwire
Серия: Mami Staffel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959790239
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die Hand mit der Kreide sinken und warf so ganz nebenbei einen Blick auf ihre Uhr. In zehn Minuten würde es läuten. Sie wandte sich zu ihren Schülern um.

      »So, nun schreibt ihr alle Begriffe unter meinen Zeichnungen ab.«

      »Brot-Laib, Weiß-Wecken, Vinschgauer, Brezel!« kam es im Chor zurück.

      »Wir haben heute gelernt, was aus dem geernteten Korn gemacht werden kann. Schreibt alles schön von der Tafel ab. Morgen gibt ’s darüber ein Diktat.«

      Karli war immer recht flink. Nach einer knappen Minute legte er den Füller beiseite, sah sich feixend um und zeigte dem kleinen Otto hinter sich einen Vogel an.

      »Karli, komm mal zu mir«, sagte Barbara. Er baute sich mit der Miene eines Unschuldsengels vor ihr auf. »Da du schon fertig bist, wirst du jetzt alle Rechenhefte mit den Hausaufgaben einsammeln.«

      Während Karli von Platz zu Platz ging, trug Barbara ein, wie sie die Stunden dieses Tages genutzt hatte. Naturkunde, eine Stunde Spielen im Hof, dann Lesen und Schreiben mit dem Abhören des Gedichts. Für den morgigen Tag trug sie gleich dick unterstrichen ›Diktat‹ ein.

      »Hier, Tante.« Karli schob ihr den Packen Hefte aufs Pult. Er setzte sich wieder und kramte in seinem Ranzen herum, wobei er seinen Nachbarn nur störte. Barbara beachtete es nicht, denn sie begann ein Heft nach dem anderen zu kontrollieren. Die anderen Kinder waren still, weil das Abschreiben ihnen Konzentration abverlangte.

      »Das ist doch…!« entfuhr es Barbara plötzlich. Alle Augen richteten sich auf sie, so daß sie sich zusammennehmen mußte. »Laßt euch nicht stören«, fügte sie hinzu. Dann blickte sie in die dritte Reihe, wo das Gritli sich mit angestrengter Miene übers Schreibheft beugte.

      Gritli sah heute richtig manierlich aus in ihrem neuen dunklen Shirt, aber ihr Rechenheft war eine Katastrophe! Barbara blätterte zurück und stellte fest, daß die Kleine vom Berghof ihre Rechenaufgaben seit Tagen nicht gemacht hatte.

      »Gritli, komm zu mir.«

      Gritli zog eine Flunsch, folgte aber sofort. Barbara schob ihr die Seiten mit den ungelösten Aufgaben hin.

      »Du hast nicht ein einziges Mal deine Rechenaufgaben erledigt in dieser Woche. Kannst du mir das erklären?«

      Gritli warf das Haar in den Nacken. »Das Gedicht habe ich gelernt.«

      »Sehr schön, aber das war seit letzter Woche zu lernen, Gritli.«

      »Ich wollt ’s ja aufsagen, aber ich bin nicht drangekommen.«

      »Wenn du es gelernt hast, freu ich mich. Aber die Rechnungen der letzten Tage sollten auch gelöst sein. Warum sind sie ’s nicht?«

      Gritli neigte den Kopf, bis ihr Kinn die Brust berührte. Kein Wort war ihr zu entlocken.

      »Dir fehlt die Zeit«, fand Barbara eine Entschuldigung für das Mädchen. »Ihr habt wohl schon Gäste, nicht wahr? Mußt du viel helfen?«

      Gritli nickte hastig, wagte ihr aber nicht in die Augen zu schauen.

      »Das Gedicht konnte ich ja.«

      Barbaras gereiztes Kopfschütteln ließ tief blicken. »So geht es nicht weiter. Entweder du kommst viel zu spät…«

      »Diese Woche aber nicht!«

      »… oder du vergißt deine Hausaufgaben. Niemals klappt beides. Ich kann mir auch denken, warum du das Gedicht gelernt hast. Das geht ja auch oben auf der Alm oder im Stall. Und es dann den Fremden aufzusagen, macht mehr Freude, als über den Rechenaufgaben zu hocken.«

      Gritli rührte sich immer noch nicht.

      »So ein Gedicht kannst auch hoch über den Wolken lernen«, höhnte der schmale Theo und brachte damit die Klasse zum Johlen.

      »Ruhe!« rief Barbara, berührte Gritlis Kinn und hob ihr Gesicht an. Dieses zarte Antlitz war zauberhaft und heute ausnahmsweise gewaschen. Sie fragte sich, womit die Großmutter Heimhofer und der grobschlächtige Sepp ein Familienmitglied verdient hatten, von dem ein so rührender Zauber ausging. Aber was half dieser Gedanke dem kleinen Gritli weiter?

      »Ich werde dir einen Brief für deine Großmutter mitgeben müssen. Sie oder dein Onkel sollen bitte zu einem Gespräch kommen. Hast du mich verstanden, Gritli?«

      Gritli nickte und durfte sich wieder setzen. Einige Kinder kicherten, aber das beachtete Barbara nicht. Sie schrieb einige Sätze auf ein Blatt Papier, holte einen Umschlag aus der Schublade und entschied sich nach kurzem Zögern, ihn an Herrn Sepp Heimhofer zu adressieren. Gritlis Onkel war ein schreckliches Rauhbein, aber im Gegensatz zu der Bergbäuerin kam er wenigstens manchmal in seinem schäbigen Jeep hinunter ins Dorf.

      »Uff!« stöhnte Gritli eine halbe Stunde später, als sie auf ihrem Heimweg aus dem Schatten des Tunnels wieder in die Sonne trat. Bestimmt war der Brief der Frau Lehrerin schuld daran, wenn der Ranzen heute schwerer war. Sie ließ ihn von den Schultern gleiten und zog das dunkle Shirt aus. Dann sah sie zum Himmel. Klar, er hing voller schwerer Wolken.

      Sie stapfte weiter bergauf. »Der Wind läßt’s goldene Korn heut wogen«, wiederholte sie das Gesicht. »Der Bauer führt d’ Sens im weiten Bogen…«

      Sie konnte es also immer noch. Wenn die blöde Frau Lehrerin sie nicht drangenommen hatte, war die doch selbst schuld! »Eine Hexe ist die Frau Lehrerin«, beruhigte Gritli sich selbst. »Eine arge Hex. Der Onkel Sepp hat ’s auch gesagt.«

      Das war reichlich übertrieben, tat ihrem schlechten Gewissen aber sehr gut. Nach einer Weile blieb sie stehen. Sie mußte gegen die Sonne anblinzeln, die noch mal zwischen den Wolken hinabschaute, um zu erkennen, welches Auto auf sie zu und die Serpentinen hinabbrauste. Nun bog es schon um die Haarnadelkurve.

      »Oih, oih!« machte Gritli und winkte, denn sie erkannte Inge Scholz am Steuer des kleinen roten Wagens. Der Platz neben ihr war leer, und Inge Scholz hielt an.

      »Fahren Sie jetzt gescheite Schuh kaufen?« fragte Gritli vorwitzig.

      Inge schüttelte den Kopf und reichte ihr die Hand.

      »Mach ’s gut, Gritli. Ich fahre zurück nach München.«

      Gritli blieb der Mund offenstehen. »Jetzt schon? Und Clara?«

      Inge verzog ihren Mund. »Die bleibt bei deinem Onkel Sepp.«

      »Ist… ist das wahr?« Fast hätte Gritli einen Freudensprung gemacht.

      Inge legte schon wieder einen Gang ein. »Das mußt du sie selbst fragen. Mich geht das nichts mehr an.«

      Gritli zeigte zum Himmel. »Aber es kommen noch schöne Tage. Da könnt ihr aufs Felshorn. Am Sonntag kann ich auch mit. Und wenn’s dann doch schüttet, führ ich euch zur Sennhütt’n, damit euch nichts geschieht!«

      Inge lachte spöttisch. »Ach, red doch keinen Schmarr’n! Clara will doch nur mit dem Sepp allein sein. Dich oder mich braucht sie nicht mehr.«

      Gritli sah ihr mit gerunzelter Stirn nach. Was war davon zu halten? Blieb Carla Baumbeer etwa für immer? War das das erflehte Wunder?

      Während sie darüber nachdachte, fiel ihr wieder der Brief für Onkel Sepp ein. Hatte er den gelesen, gab’s gewiß ein Donnerwetter, gegen das ein Bergsturm nur ein Kinderspiel war. Onkel Sepp würde toben und sich von seiner schlechtesten Seite präsentieren. Und dann! Wenn Clara sich dann von ihm abwandte und auch zurück nach München fuhr?

      Gritli sah den Hang hinab, wo das rote Auto von Inge Scholz bald im Tunnel verschwinden mußte. Genauso mußte auch der Brief der Frau Lehrerin verschwinden, dann konnte er kaum noch Unheil anrichten!

      *

      Der hochgewachsene Mann, der an der Bushaltestelle im Dorf Wesing ausstieg, atmete die regenfrische Luft genießerisch ein. Dann schulterte er seinen schweren Ledersack und ging gemächlich auf den Dorfkrug zu. Sein Blick strich dabei über die Häuser, blieb etwas länger auf dem neuen Supermarkt haften und glitt dann schnell zur Kirche hinüber.

      Thilo Heimhofer schob den