Als ihr Reiseziel endgültig festgestanden hatte, hatte sie alle möglichen Magazine durchstöbert, die ihr Vater gesammelt hatte. Darin hatte sie nicht nur die Bilder berühmter Leute gefunden, die den Süden Frankreichs frequentierten, sondern auch Beschreibungen ihrer Villen. Dabei war sie auch auf einen Artikel über das Hotel de Paris in Monte Carlo gestoßen, das voller Stolz den Kaiser und die Kaiserin von Österreich, die Zarin von Rußland, die Könige von Schweden und Belgien sowie die Königin von Portugal zu seinen Gästen zählte.
Obwohl sie nicht annahm, diese Leute persönlich kennenzulernen, freute sie sich schon allein auf die Aussicht, sie aus der Ferne bewundern zu dürfen, vor allem die Kaiserin von Österreich, die man zu den schönsten Frauen der Welt rechnete.
„Beaulieu!“ schrie der Stationsvorsteher, als der Zug in den Bahnhof einfuhr.
Ancella stand am Fenster, um nach einem Träger Ausschau zu halten. Auf ihr Zeichen hin nahm ein älterer Mann vor ihrem Abteil Aufstellung und wartete, bis der Schaffner ihm Ancellas Gepäck herunterreichte.
Vor ihrer Abreise hatte sie sich bei Sir Felix danach erkundigt, welche Trinkgelder üblich waren und in Calais dementsprechend Geld umgetauscht. Daß sie dem Mann ein wenig mehr gab, als er erwarten durfte, quittierte er mit einem strahlenden „Merci beaucoup, Mademoiselle“.
Sie hatte kaum den Bahnsteig betreten, als ein Diener in eleganter Livree auf sie zutrat und sich verbeugte.
„Mademoiselle Winton?“ erkundigte er sich.
„Oui“, erwiderte sie.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Mademoiselle. Ihre Hoheit hat Ihnen einen Wagen geschickt. Er wartet draußen.“
Ancella stieß einen erleichterten Seufzer aus. Trotz Sir Felix’ Behauptung, daß sie zweifellos abgeholt wurde, war sie sich ihrer Sache nicht sicher gewesen. Von ihrer Bedeutungslosigkeit überzeugt, hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wie sie zur Villa gelangen sollte, die vermutlich ein ganzes Stück vom Bahnhof entfernt lag. Mußte sie zum Beispiel den Kutscher, den sie anheuerte, selbst bezahlen, oder war es in diesem Falle richtig, die dortigen Diener darum zu bitten?
Dieses Problem stellte sich nun glücklicherweise nicht, da vor dem Bahnhof eine bequeme Kutsche stand, die zu ihrem Entzücken offen war. Der Diener half ihr hinein und verstaute das Handgepäck auf dem Sitz ihr gegenüber; ihr großer Koffer wurde hinten festgeschnallt. Dann kletterte er auf den Bock, und sie fuhren los.
Der warme Sonnenschein wirkte wie eine einzige Liebkosung. Das Meer funkelte und glitzerte, und Ancella konnte sich nicht vorstellen, daß es irgendwo auf der Welt schöner sein konnte. Auf den Straßen wimmelte es von Wagen aller Art, einige davon höchst eindrucksvoll, in denen elegante Damen saßen, die sich mit kleinen Schirmen gegen die Sonne schützten. Dazwischen rumpelten grobe, von Maultieren gezogene Karren, in einem Fall entdeckte Ancella sogar ein Paar weißer Ochsen als Zugtiere.
Beaulieu lag inmitten von Orangen- und Zitronenbaumen, die Straßen führten zwischen Rosenhecken und blühenden Geranien dahin. Hinter der Stadt ragten felsige Hügel in die Höhe, die von Pinien gekrönt waren. Dazwischen standen Olivenbaume, die teilweise Hunderte von Jahren alt waren, wie Ancella gelesen hatte.
Nachdem sie Beaulieu hinter sich gelassen hatten, bogen sie in die untere Corniche ein, die sich neben der Eisenbahnlinie entlang zog, auf der sie bald von dem Zug überholt wurden, mit dem Ancella aus Paris gekommen war. Sie waren etwa zwanzig Minuten gefahren, als der Kutscher den Wagen von der Straße weg in einen schmalen Weg lenkte, der ziemlich steil bergab führte.
Wie sie von Sir Felix wußte, lag ihr Bestimmungsort, die Villa d’Azur, in der Nähe von Eze, einem kleinen Ort, den sie nach einigem Suchen auf der Landkarte zwischen Monte Carlo und Beaulieu gefunden hatte.
Der Wagen fuhr unter uralten Bäumen zwischen weißen Mauern dahin, die von üppigen rosa und purpurfarbenen Geranien überwuchert waren. Nach einigen Minuten tauchte ein Stück weiter unten ein großes Gebäude mit flachem Dach auf, das gegen die grünen Bäume und das blaue Meer geradezu phantastisch weiß wirkte.
Vor einem eindrucksvollen Portal, das auf beiden Seiten von riesigen Kübeln korallenroter Azaleen flankiert war, kam der Wagen zum Stehen.
In der geräumigen Eingangshalle, die sie gleich darauf betrat, war es angenehm kühl. Ein würdevoller Majordomus verbeugte sich respektvoll und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Zum ersten Mal seit Antritt ihrer Reise fühlte sie eine leise Beklommenheit, als sie hinter ihm die breite Freitreppe hinaufstieg.
Im ersten Stock wandte sich der Majordomus nach links, wo er an eine Tür klopfte. Eine grauhaarige Dienerin öffnete, die keine sonderlich freundliche Miene zur Schau trug.
„Die Mademoiselle aus England“, meldete der Majordomus.
Die grauhaarige Frau musterte Ancella einen Augenblick durchdringend, bevor sie die nächste Tür aufmachte und sie eintreten ließ. Der dahinterliegende Raum lag in strahlendes Sonnenlicht getaucht, so daß Ancella ein paar Sekunden wie geblendet stehenblieb, bevor sie ihre Umgebung in sich aufnehmen konnte.
In einem riesigen Himmelbett mit Seidendraperien lehnte inmitten von unzähligen Kissen eine alte Frau.
„Sie sind also doch noch gekommen“, begrüßte sie eine klagende Stimme in ausgezeichnetem Englisch, wenn auch mit unverkennbar fremdländischem Akzent. „Ich fing schon an zu glauben, daß Sie sich unterwegs verirrt hätten.“
Ancella trat an das Bett heran. Als sie die Frau aus der Nähe sah, konnte sie ihr Erstaunen kaum verhehlen. Prinzessin Feodora mußte uralt sein. Ihr Gesicht wirkte wie zerknittertes chinesisches Pergament. Beide Backenknochen trugen Rouge Tupfer, und auch die Lippen waren blutrot bemalt. Auf dem Kopf thronte allem Anschein nach eine Perücke, in der einige Brillantsterne funkelten.
Jede Bewegung der alten Frau hatte ein wahres Feuerwerk zur Folge, wenn die Sonnenstrahlen sich in den Brillanten an den Armen und Fingern spiegelten. Den faltigen Hals zierten zwei Reihen herrlicher Perlen. Um die knochigen Schultern lag eine kostbare Zobelstola. Am Fußende des Bettes war nachlässig eine Hermelindecke zurückgeschlagen.
So alt die Prinzessin auch sein mochte; ihre Augen blickten klar und durchdringend in die Welt.
„Sie sind also Ancella Winton“, stellte sie fest, nachdem sie sie neugierig von Kopf bis Fuß gemustert hatte. „Sie überraschen mich. Ich habe kein so junges Mädchen erwartet.“
Ancella spürte ein gewisses Schuldbewußtsein. Sir Felix hatte es mit voller Absicht unterlassen, Dr. Groves gegenüber ihr Alter zu erwähnen, um diesen nicht auf den Gedanken zu bringen, sie könne für eine so verantwortungsvolle Position nicht die genügende Reife mitbringen.
„Wir wollen eine direkte Lüge vermeiden, aber auch keine ungefragten Informationen erteilen“, hatte er gesagt. „Schließlich weiß ich, daß Sie eine tüchtige und erfahrene Krankenpflegerin sind, die sich auch unter schwierigen Umständen umsichtig verhalten kann.“
„Es tut mir leid, wenn Eure Hoheit unzufrieden sind“, erwiderte Ancella, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Habe ich das vielleicht behauptet?“ gab die Prinzessin zurück. „Ich umgebe mich gern mit jungen Menschen, sofern sie sich zu benehmen wissen.“
„Dann kann ich nur hoffen, Ihrer Vorstellung zu entsprechen.“
„Sie sind eigentlich viel zu hübsch für den Beruf, den Sie sich gewählt haben“, bemerkte die Prinzessin, die Ancella nicht aus den Augen ließ. „Wie kommt es, daß Sie noch nicht verheiratet sind?“
Ancella fiel es schwer, ein Lachen zurückzuhalten. So hatte sie sich das erste Gespräch mit ihrer