Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Paul Schulz
Издательство: Bookwire
Серия: Kleine philosophische Reihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843800358
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deshalb im Leben nicht geben kann, weil der Mensch nie losgelöst sein kann von Bedingungen, die ihn halten, ihn verpflichten, für ihn notwendig sind. Deshalb ist der Mensch nie wirklich frei. Der Begriff Freiheit ist eine Sackgasse, eher eine Quizaufgabe für ein Oberseminar Theoretischer Philosophie. Freiheit meint im Konkreten vielmehr Befreiung, also einen ständigen Prozess, keinen dauernden Zustand. Befreiung ist die eigentlich positive Lebenserfahrung, nämlich Loslösung aus Verhältnissen, die man so nicht will; Loslösung aus Abhängigkeiten, die das eigene Leben hindern, etwas anderes zu machen; Loslösungen aus Lebenszwängen, die das eigene Handeln und Verhalten fremdbestimmen.

      Im Ersten ist Befreiung also – Loslösung vom Alten. Solche Loslösung kann oft nur unter starker Kraftanstrengung gelingen, weil die Verhältnisse, die den Menschen unfrei halten, ihn gleichsam eng umklammern, fesseln, abschnüren. Loslösung bedarf also einer Sprengkraft, die die unfrei machenden Bindungen aufbricht.

      Entsprechend können, ja, müssen die Mittel zur Loslösung oft hart sein. Je stärker die Umklammerung ist, desto härter muss der Befreiungsakt geraten. Meist ist der Mensch erst bereit sich zu verändern, wenn der Leidensdruck unerträglich geworden ist.Dann ist die notwendige Sprengkraft, die die alten Bindungen auseinanderreißt, natürlich äußerst groß.

      Im Zweiten bedeutet Befreiung – Freisetzung für etwas Neues. Befreiung fordert also unbedingt als zweiten Schritt die aktive Veränderung auf sich selber zu, einen elementaren Lernprozess mit sich selbst und der ehrlichen Frage: Was will ich eigentlich?

      Ist das Leben, das ich führe, mein eigentliches Leben? Ist das alles? Entspricht dieses Leben meinen persönlichen Vorstellungen? Renne ich nicht mit allem, was ich tun muss, vor mir selber weg? Sterbe ich nicht Tag für Tag an Alltagsstress, an Routine, an dem Gefühl, da komme ich nie wieder raus?

      Ist vielleicht schon alles verpasst, meine Gefühle verkümmert? Hatte ich nicht Wünsche, Träume, Sehnsüchte? Alles vorbei? Wo gibt es noch jemanden, der mich schützt, ermuntert, zu mir hält, wenn ich zusammenzubrechen drohe? Kann ich noch jubeln, zärtlich sein, lieben? Ist all das in mir schon verklungen?

      Was ist an meinem Leben lebenswert? Was ist daran schön und beglückend? Sollte ich nicht viel offener und freier sein, um die Fülle des Erfahrbaren viel tiefer auszuloten? Müsste ich mein Leben als einmalige Kostbarkeit nicht ganz anders gestalten?

      Liegt die Antwort auf manche dieser Fragen nicht doch nahe: Ich muss mein Leben überdenken, ändern, einen Ausweg finden, vielleicht sogar den Neubeginn wagen?

      Dieser Umbruch, diese Loslösung von fremdbestimmten Zwängen zur selbstbestimmenden Eigenverantwortung, das Prinzip der Befreiung des Ich zu sich selber lässt sich beschreiben als Rationale Geburt.

      Auf dem Weg zum eigenen Selbst

      Natur kontra Kultur

      [Zur Frage der Fremdbestimmung]

      (1)

      1. Mit den ersten Zuwendungen der Eltern zu ihrem Kind beginnt der Einfluss der Kultur auf den Menschen und damit auf sein natürliches Wesen. Die Eltern und die ersten Bezugspersonen tragen für den guten Einstieg des Kindes in sein zukünftiges Leben eine riesige Verantwortung.

      2. Das Grundproblem des heranwachsenden Kindes liegt weniger in einzelnen Negativerfahrungen mit den Eltern. Es liegt vielmehr in den permanenten Auseinandersetzungen mit dem elterlichen Überdruck, sei es unter dem Autoritätsgehabe des Vaters oder unter dem Liebesüberschwang der Mutter. Deren permanente Bevormundungen verengen das Selbstständigwerden des Kindes und verfremden die Entfaltung des Selbst in unzulässiger Weise.

      3. Erziehung als Orientierungshilfe ist deshalb die elterliche Bereitschaft, das Kind in seinen Begründungen und Meinungen frühzeitig ernst zu nehmen und seine Widersprüche mit Sachüberzeugungen zu steuern mit dem Ziel, seine Fähigkeit zur Selbstständigkeit zu fördern.

      4. In der Erziehung geht es nicht um Selbstverwirklichung der Eltern, sondern um Lebensbefähigung des Kindes; nicht um Existenzsicherung der Eltern, sondern um Zukunftssicherung des Kindes; nicht um Lebensqualität der Eltern, sondern um Lebensqualifizierung des Kindes.

      5. Allein das Selbstständigwerden des Kindes ist in allem das höchste Ziel und damit gerade auch die prinzipielle Loslösung des Kindes von den Eltern. Die letzte Freisetzung durch die Eltern selbst ist das völlige Loslassen des Kindes in die Eigenständigkeit.

      (2)

      1. Beginnend mit der Erziehung vermittelt Kultur dem Menschen eine unglaubliche Fülle von Lebensmöglichkeiten, mit denen er sein Ich entfalten kann. Die Kultur als kollektive Geisteswelt ist für jeden Menschen lebensnotwendig und damit etwas grundsätzlich Positives.

      2. Mit der Kultur lernt der Mensch geltende Wertigkeiten in ihrer inneren Logik und in ihren Zusammenhängen zu verstehen und in ihren äußeren Folgen und Konsequenzen einzuschätzen. Sie gibt ihm zugleich die Rahmenbedingungen für sein Zusammenleben mit den anderen Menschen, nicht nur mit jenen, die in seinem ständigen direkten Umfeld leben, sondern auch mit jenen, die ihm entfernt sind oder gar völlig fremd.

      3. Dennoch ist der einzelne Mensch in seinen individuellen Bedürfnissen durch die Kultur bedroht. Der Einzelne prallt mit seinen Bedürfnissen und Wünschen immer wieder auf die kollektiven Normen der Gesellschaft und wird dabei in seiner persönlichen Entfaltung auf ein gewolltes Maß beschränkt, gar mit Gewalt unterdrückt, verfolgt oder eliminiert.

      4. Die Loslösung von einem derart überspitzten Kulturdruck auf den Einzelnen ist gesellschaftspolitisch ein höchst komplizierter und langwieriger sozialer Wandlungsprozess. Auf Dauer zermürbt die Natur des Ich eine Kultur, in der sich das Ich immer weniger entfalten kann, sie bricht sich neue Bahnen, schafft neue Theorien zur Korrektur der Kultur und damit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

      5. Ein solcher Durchbruch ereignete sich in der Bundesrepublik durch die Jugendbewegung der Flower-Power-Generation und der daraus hervorgehenden 68er-Bewegung. In ihr entstand die Dynamik eines geistigen Aufbruchs, die Freiheit, völlig anders zu denken als bisher und damit das kritische Ich-Bewusstsein des Einzelnen in unserer Gesellschaft heute. Dass es heute keine Autoritäten mehr gibt, die sich nicht erklären müssen, ist unbestreitbar Verdienst der 68er-Bewegung.

      (3)

      1. Die Religion ist nicht ein Fremdteil innerhalb der Kultur. Anders als im 20. Jahrhundert wird die Religion heute als ein wesentlicher Bestandteil der Kultur gesehen und damit als eine integrative Kraft des kollektiven Bewusstseins.

      2. In der Religion geht es gesellschaftlich um zwei völlig unterschiedliche Problembereiche:

      – zum einen um die institutionalisierte Religion, um den Missbrauch der Religion durch kirchliche und politische Amtsträger und Machthaber. Die Religion wird immer wieder gezielt benutzt, um auf die Menschen, auf Gesellschaft und Institutionen Einfluss zu gewinnen und auszuüben.

      – zum anderen um die Religion als Privatsache des einzelnen Menschen. Die Religion übt eine starke Persönlichkeitsbildung auf den Menschen aus, wobei viele Lebensbeschränkungen, psychologische und soziale Schäden ganz direkt in religiösen Fehlleitungen begründet liegen.

      (4)

      1. Gegenwärtig spitzt sich ein neuer Kulturkonflikt zu, eine Auseinandersetzung der säkularen Welt mit der Religion und den Religionen. In ihm geht es prinzipiell um den Primat der Deutungshoheit in unserer naturwissenschaftlich-technischen Welt zwischen wissenschaftlichem Vernunftdenken und religiösem Glauben.

      2. Schon seit 2600 Jahren hat eine dezidierte Religionskritik nachgewiesen, dass alles Reden des Menschen von Göttern und von Gott nur Reden des Menschen über Gott ist. Gott ist nur subjektive Spekulation, kein transzendentes Sein an sich.

      3.