Sehr auffallend waren mir die Gedenktafeln, die fast an jedem älteren Hause angebracht sind: Sie berichten von früheren berühmten Bewohnern. So wird man auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit erinnert: die Brüder Grimm, die Physiker Gauß und Weber und die andern, die noch zu den »Göttinger 7« gehörten – alle, die einmal hier gelebt und gewirkt haben, werden den Nachlebenden beständig ins Gedächtnis gerufen. Es ist auch noch der alte Stadtwall erhalten, mit mächtigen hohen Linden bepflanzt. Ihr Duft weht im Sommer in die Hörsäle herein (das Auditorienhaus liegt direkt am Wall); und wenn ich drinnen von Heine sprechen hörte, dann dachte ich daran, daß auch er einst auf diesen Bänken gesessen hatte und daß ihm wohl der Göttinger Wall vorschwebte, wenn er in seinen Versen von den »Wällen Salamancas« erzählte. Ich machte gern einen Spaziergang über den Wall: Man sah so schön von dort nach der einen Seite auf die alten Häuser der inneren Stadt, nach der andern auf die Villen und Gärten weiter draußen. An einer Stelle stand auf dem Wall ein altes Borkenhäuschen; das hatte Bismarck als Student bewohnt.
Wenige Tage nach mir kam Rose an, und nun richteten wir uns miteinander häuslich ein. Wir hatten zusammen zwei Zimmer; in einem schliefen wir beide; das größere war unser gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer. Früh brachte uns unsere Wirtin heiße Milch und frische Brötchen; dann rührten wir uns selbst Kakao an. Zum Mittagessen trafen wir uns; wir nahmen es gewöhnlich in einem vegetarischen Speisehaus, das eine süddeutsche Wirtin mit drei netten Töchtern unterhielt. Es war sehr stark besucht. An einer langen Tafel, aus mehreren zusammengerückten Tischen gebildet, saßen die englischen und amerikanischen Studenten; ihre laute und harmlose Fröhlichkeit beherrschte den Raum. Das Abendessen – Tee und belegte Butterbrote – machte zurecht, wer zuerst aus der Vorlesung heimkam. Wer spät aushatte, fand den gedeckten Tisch vor. Ich erinnere mich nicht, daß es in dem Sommer, den wir so gemeinsam lebten, einen Streit oder eine Verstimmung zwischen uns gegeben hätte. Soweit es ihre Zeit erlaubte, nahm Rose an meinen philosophischen Vorlesungen teil; ich trieb auch ein wenig mit ihr Mathematik. Unsere Stundenpläne waren aber doch sehr verschieden. Mittwoch- und Sonnabendnachmittag waren traditionell in Göttingen keine Vorlesungen, weil Studenten und sogar auch Professoren mit ihren Töchtern nach Maria Spring zum Tanz gingen. Nur die Philosophen Nelson und Husserl nahmen darauf keine Rücksicht. Am Mittwochnachmittag hielt Husserl sein Seminar. Aber den Sonnabendnachmittag hatten auch wir frei. Nach Maria Spring gingen wir nicht, aber doch – wenn es das Wetter irgend erlaubte – ins Freie. Vorher schrieben wir unsern Wochenbrief nach Hause und abwechselnd an die zurückgelassenen Freunde und Freundinnen. Sonntag waren wir bei gutem Wetter fast immer den ganzen Tag draußen. Manchmal blieben wir auch von Sonnabendmittag bis Sonntagabend fort. Wir wollten doch in diesem Sommer die mitteldeutsche Landschaft kennenlernen. Das konnte man von Göttingen aus herrlich. Die Stadt lehnt sich im Südosten gegen einen Hügel; auf der Höhe steht der Bismarckturm. Schöne Parkanlagen führen vom Stadtrand hinauf und gehen in den Göttinger Wald über. Den kann man den ganzen Tag durchlaufen, ohne an ein Ende zu kommen; meist auch, ohne einem Menschen zu begegnen. Die Göttinger machen keine weiten Märsche. Wenn wir am Sonntag erst nachmittags ausgingen, dann sahen wir sie in großen Scharen hinausziehen. Aber ihr Ziel war nur eine der beiden großen Kaffeestationen, die auf halber Höhe in angemessener Entfernung voneinander an jenem langgestreckten Hügel lagen: der »Rohns« und der »Kehrs«. Die Bürgersleute waren von den Studenten deutlich zu unterscheiden dadurch, daß sie Hüte trugen, während Studenten und Studentinnen ohne Hut gingen. Außerdem waren sie alle mit großen Kuchenpaketen beladen. Wenn sie weiter wollten als bis zum Kehrs, dann fuhren sie in Kutschen. Die Sitte, den Kuchen aus der Stadt mitzunehmen, hatte zur Folge, daß man draußen in den Gasthäusern keinen bekam; es gab nur derbes Landbrot und Göttinger Wurst. Für größere Ausflüge nahmen wir unsern Proviant im Rucksack mit und hielten unsere Mahlzeiten im Walde: ein Schwarzbrot, eine Dose mit Butter, etwas Aufschnitt, Obst und Chokolade – das schmeckte besser als ein Diner im Gasthaus.
Auch nach den andern Seiten hin ist Göttingen von Hügeln und Wäldern umgeben; viel Buchenwald, der in Rot und Gold leuchtete, wenn man im Herbst zum Wintersemester kam. Und von den Höhen blicken alte Burgruinen ins Tal. Ich hatte eine besondere Vorliebe für die »Gleichen«, zwei Gipfel dicht nebeneinander, beide von Ruinen gekrönt. Auf dem Sattel zwischen den Gipfeln lag ein einfaches Gasthaus; darin war eine Chronik der Grafen von Gleichen, die einst da oben gehaust haben. Wenn wir von oben ins Tal hinabschauten, fühlte ich mich so recht im Herzen von Deutschland: eine liebliche Landschaft – an den Abhängen sorgfältig bebaute Felder, schmucke Dörfer und rings ein Kranz grüner Wälder. Es war, als könnte im nächsten Augenblick drüben am Waldrand ein Hochzeitszug heraustreten wie auf einem Bild von Ludwig Richter.
Auf den größeren Fahrten lernten wir Cassel und das Weserland, Goslar und den Harz kennen. Pfingsten machten wir eine mehrtägige Wanderung durch Thüringen. Wir stiegen von Eisenach zur Wartburg auf, gingen durch die Drachenschlucht zur Hohen Sonne, später auf dem Rennsteig zum Inselsberg. Streckenweise benützten wir die Bahn, um in den wenigen Tagen mehr kennen lernen zu können. Natürlich stand auch Weimar auf unserem Programm, und den Abschluß sollte eine Besichtigung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf bilden. Die ersten Tage hatten wir sehr schönes Wetter. Am dritten (wenn ich mich recht erinnere) begann es gegen Abend zu regnen. Wir waren seit dem Morgen unterwegs und wollten vor der Nacht Ilmenau erreichen, unser letztes Ziel vor Weimar. Der Regen wurde stärker und stärker, die Landstraße dehnte sich länger und länger, unsere Füße wollten gar nicht mehr weiter, und kein Ort zeigte sich. Rose wurde vor Müdigkeit schweigsam und niedergeschlagen, ich kämpfte darum, bei guter Stimmung zu bleiben. Es war wohl schon acht Uhr, als wir endlich ein langgestrecktes Dorf erreichten. Es schien eine Sommerfrische zu sein, denn es lagen Fremdenpensionen am Wege. Aber, wo wir auch anklopften – es war nirgends ein Platz in der Herberge. Ich raffte mich bei jedem Haus von neuem wieder auf nachzufragen, aber immer vergebens. Wir waren wohl eine halbe Stunde durch die ganze Ortschaft gegangen, als sich am Ende ein Gasthaus fand, das uns aufnahm. Die Fremdenzimmer waren in einem eigenen Gebäude, dem eigentlichen Wirtshaus gegenüber. Während die Betten für uns gerichtet wurden, gingen wir in die Gaststube. Ein kräftiges, warmes Nachtessen weckte unsere Lebensgeister. Den freundlichen Wirt fragten wir, wo wir eigentlich wären. Manebach hieß das Nest. Manebach – das klang so langgedehnt wie der endlose Regen und die endlose Landstraße. Wir hatten schon wieder genügend Humor, um herzlich darüber zu lachen. Sobald unser Zimmer bereit war, schlüpften wir aus den durchnäßten Kleidern und in die warmen Betten. Nun mußte ein neuer Schlachtplan gemacht werden. Wir holten Richards schöne Generalstabskarte hervor – das Überbleibsel einer Truppenübung in Thüringen. Bis zu diesem Abend hatte sie uns trefflich geführt. Wo lag Manebach? Richtig: Da war es. Wir waren nur eine Bahnstation von Ilmenau entfernt. Aber der Zeitverlust von heute war nicht mehr einzubringen. Wir verzichteten auf Ilmenau und den Gickelhahn und beschlossen, am nächsten Morgen nach Weimar zu fahren. Auch ein Kursbuch hatten wir zur Hand, um den ersten Zug festzustellen.
In Weimar besuchten wir das stattliche Goethehaus am Frauenplan und das reizende Gartenhaus am Stern, das Schillerhaus mit dem rührend armseligen Sterbezimmerchen. Nachmittags gingen wir hinaus nach Tiefurt. Es war ein Sonntag, und viele Spaziergänger strömten hinaus. Wir waren etwas kreuz- und lendenlahm von dem vorausgehenden Tagesmarsch und glaubten zu kriechen wie die Schnecken; trotzdem hatten wir bald alle Weimarer Bürger weit hinter uns. Im schönen Park von Tiefurt mußten wir uns auf eine Bank setzen und ein wenig poetisches Geschäft vornehmen: unsere Barschaft zählen. Ich hatte vor der Abreise eine für mich ausreichende Summe von der Bank geholt; aber Rose hatte sich den Weg sparen wollen und nicht genügend vorgesorgt. Nun stellten wir fest, daß der gemeinsame Kassenbestand nicht mehr für Wickersdorf reichte. Wir mußten uns dort telegraphisch abmelden. Dann blieb uns noch soviel, um heute abend nach Jena hinüberzufahren und von dort aus am nächsten Tag geradewegs nach Göttingen. Ich freute mich, Jena kennenzulernen, und fühlte mich dort viel wohler als in Weimar. Man konnte in aller Stille die Erinnerungsstätten aufsuchen; es war hier alles weniger aufdringlich und man stieß nicht überall auf ein andächtig staunendes Mädchenpensionat.
Als wir nach unserer Rückkehr die Generalstabskarte bei Courants ablieferten, mußten wir natürlich über unsere Wanderung Bericht erstatten. Wir hätten gern den blamablen Abschluß verschwiegen, aber Richard erkundigte sich sofort