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in seiner eisigsten Bedeutung zu. Aber außer Kilikian hatten sich in diesen zweiunddreißig Tagen auf der Südbastion mehr als achtzig Deserteure zusammengefunden, wobei der Ausdruck »Deserteure« bekanntlich in vielen Fällen auch ein weniger ehrenvolles Herkommen decken mußte. Wegen dieses ständigen Zuwachses hatte es sogar Unstimmigkeiten zwischen Ter Haigasun und Gabriel Bagradian gegeben. Dieser meinte nämlich auf keine jugendliche und militärisch ausgebildete Kriegerfaust verzichten zu dürfen, während jener nicht nur die Brauchbarkeit einer erklecklichen Anzahl dieser Gestalten, sondern sogar ihre echte armenische Volkszugehörigkeit in Zweifel zog. »Mögen auch ein paar Räuber unter ihnen sein«, beruhigte Gabriel den Priester, »es sind im Kampf die großartigsten Kerle.« Er dachte dabei an die guten Erfahrungen, die er mit einigen Deserteuren in seiner fliegenden Garde gemacht hatte. Bagradian hätte unbedingt die Pflicht gehabt, für einige Zeit sein Lager unter dieser Besatzung aufzuschlagen, um die schwierige Gesellschaft fest in die Hand zu bekommen. Er aber blieb nach wie vor bei seinen geliebten Elite-Zehnerschaften. Nur seit Stephans Tod sah man ihn auch nicht mehr in der Nordstellung. Vor einigen Tagen war der unfähige Mann aus Kheder Beg mit schwerem Fieber ins Epidemiewäldchen geschafft worden. Hrand Oskanian war seither der einzige Träger der Ordnung im Süden. Er ahmte Bagradian nach, indem er unter den Deserteuren schlief und ihr ganzes Leben zu teilen versuchte. Dies aber war durchaus keine leichte Sache. Der schwächliche Knirps mußte sich unablässig dehnen und diesen mit allen Salben geschmierten Gesellen sich anpassen und anbiedern. Er war gezwungen, tagaus, tagein den verfluchten Kerl zu spielen und ständig über die Verhältnisse seines Körpers und seines Mutes zu leben. Nächst der Verwundung durch Juliette Bagradian war dieser Umgang der Hauptgrund für die sonderbare Entwicklung des kleinen Lehrers, von der sein »revolutionäres« Benehmen im Führerrat eine Probe abgelegt hatte. Er war übrigens äußerst stolz auf diesen Krach und zeichnete sich selbst mit dem Worte »revolutionär« aus.

      Der Südabschnitt stand, vereinsamt und weit abgelegen, in größter Sonnenferne gleichsam zum Altarplatz und mithin zum Geiste der Ordnung und Führung. Das Volk zeigte eine deutliche Scheu vor diesem Abschnitt. Während zum Beispiel zwischen der Nordstellung und der Stadtmulde stets ein lebhafter Verkehr stattfand, verirrten sich in die Felsen der Südbastion nur selten ein paar Neugierige. Das ließ sich weder durch den langen Weg hinreichend erklären noch auch dadurch, daß den Deserteuren der Familienanhang fehlte. Hie und da schickte Bagradian eine Inspektion hinaus, die zur Zufriedenheit des Befehlshabers keine besonderen Beobachtungen zu vermelden hatte. Es war klar: die Deserteure mußten ja dankbar sein, in der Volksgemeinschaft Aufnahme gefunden zu haben und, anstatt ihr bisheriges Hundeleben zu führen, regelmäßiges Essen zu erhalten. Wie es freilich um ihre tatsächliche Anhänglichkeit und ihren Opfermut für diese Volksgemeinschaft stand, das wußte niemand, und niemand machte sich darüber Gedanken. Die Südbastion war eine Welt für sich. Ihre Besatzung führte ein Leben, dem niemand nachforschte. Sie übernahm es als Gegenleistung für regelmäßige Nahrung, den Abschnitt zu verteidigen, das war alles. Doch auch die Deserteure hatten sich, in Einhaltung dieses ungenannten Vertrages, bisher blutwenig um Stadtmulde, Altarplatz, Führerrat gekümmert und nur selten die Örtlichkeiten des allgemeinen Lebens betreten. Heute, an dem Morgen der schweren Katastrophe, geschah es vielleicht zum erstenmal, daß sie in einigen größeren Haufen ins Lager kamen. Sie verbanden aber mit ihrem Auftreten nicht den geringsten Zweck. Die Witterung, »etwas ist los«, hatte sie hergetrieben, der ewige Wunsch solcher Existenzen nach Verwirrung und Auflösung, nach dem Nichts, das zugleich das Neue ist.

      Es hatte schon sehr oft auf dem Altarplatz Ansammlungen gegeben, bei denen irgendein Vorfall des Tageslebens erregt besprochen wurde. Zumeist geschah es am Freitag, wenn Ter Haigasun Gericht hielt und die Parteien unter Teilnahme von Gaffern draußen weiterstritten. Diesmal aber war das Bild sehr verschieden von den größten bisherigen Aufläufen. Noch immer herrschte zwar das weibliche Element vor, doch zeigten sich trotz der Morgenstunde viele Krieger aus der ersten Linie, die auf die Schreckensnachricht in die Stadtmulde geeilt waren. Einen neuen Bestandteil bildete auch Nuniks gebrechliche Schar, die, ohne weiter mit Ter Haigasun darüber zu verhandeln, das Recht des Bleibens in Anspruch genommen und in der Nähe des neuen Friedhofs ihr Lager bezogen hatte. In der Stadtmulde wurde über diesen unwillkommenen Zuwachs von Fressern schrecklich geschimpft. Doch dies half nichts. Man hätte die Bande erschlagen müssen, um sie loszuwerden. Jetzt mischte das Bettelvolk seine grauen Farben in das Bild. Auch die Schuljugend, seit dem letzten Kampfe aufsichtslos, spatzendürr, wolfswild, fehlte nicht in ihrer Wolke aus schrillem Lärm.

      In der Wirrnis des allgemeinen Entsetzens gab nicht etwa die unterste Volksklasse den Ton an, nicht die armen Bauern, Knechte, Handwerkergehilfen, sondern ein gewisser mittlerer Stand, den man am ehesten die »kleinen Besitzer« nennen könnte. Diese gebärdeten sich wie toll, warfen ihre Mützen zu Boden, rauften sich die Haare, fuchtelten herum und vollführten wahre Verzweiflungstänze. Ihre Verzweiflung aber galt nicht so sehr dem kommenden Hunger als einem eingebildeten Verlust. Sie schrien, man habe sie um ihr Eigentum, ihr Letztes gebracht. Wer ihrem Jammer glaubte, mußte den Eindruck gewinnen, die Türken hätten Hunderttausende von Schafen erbeutet. Jeder einzelne von diesen kleinen Besitzern berechnete seinen Verlust mit phantastischen Ziffern. Daß die geraubten Herden längst schon Gemeinbesitz waren und daher kein einzelner etwas verloren hatte, daß ferner der große Viehreichtum der Dörfer zu einem kärglichen Rest zusammengeschmolzen und daß schließlich dieses ganze Wehgeschrei völlig unnütz und verrückt war, das bedachten sie nicht oder wollten sie nicht bedenken. In ihrem jammernden Gehaben offenbarte sich eine krankhafte Mischung von Angst, Wichtigmacherei und Wahn. Es war eine ähnliche Verfallserscheinung wie Oskanians Verratswahn. Das Widersinnige bemächtigte sich immer tückischer der Seelen.

      Das dumpfere Volk, durch den Schlag betäubt, blieb anfangs schwerfällig stumm. Es suchte mit ängstlichen Fragen die Meinung der Berufenen. Erst die kleinen Besitzer waren es, die ihre Erregung auf die Menge übertrugen. Mit ihnen mußten die Muchtars den Kampf ausfechten. Ter Haigasun hatte sie vorausgeschickt, damit sie die Suppe auslöffeln. Als Exekutive des Führerrates hatten sie den Verkehr mit dem Volke zu pflegen. Sie kamen nicht über den ersten Löffel dieser Suppe hinaus. Von dichten Gruppen eingeklemmt, wurden sie einzeln hin und her gestoßen, über den ganzen Platz. All ihre Rechtfertigungsversuche gingen in zornigem Gebrüll unter: »Nur ihr seid schuld, ihr allein!« Eine fromme Lüge hätte vielleicht für den Augenblick Erleichterung geschafft. Die Andeutung zum Beispiel, es seien, trotz des Unglücks, noch genügend heimliche Nahrungsreserven vorhanden, hätte den alten Leichtsinn wieder belebt; denn ein paar Tage bedeuteten für den Musa Dagh ein unabsehbares Zeitalter. Keiner der Ältesten hatte den rettenden Einfall, der Menge irgend etwas Unverhofftes in Aussicht zu stellen, um sie für diese Stunde wenigstens zu beruhigen. Thomas Kebussjan aber, sonst ein gewiegter Mann, der nun auch den Kopf verlor, griff unter dem Einfluß Lehrer Oskanians zu dem übelsten und gefährlichsten Mittel, um die Wut auf ein andres Ziel zu lenken. Er warf die Verratsparole unter die Menge. Das Volk hat in guten Zeiten für die Glaubwürdigkeit von Menschen und Worten ein gutes Unterscheidungsvermögen und eine gesunde Skepsis. Lehrer Oskanian war von den Leuten nie besonders ernst genommen worden. Nun aber verhalfen ihm die Muchtars zu einem Erfolg. Dieselbe Masse nämlich, die in gewöhnlichen Zeitläuften sich so entlarvend skeptisch gegen große Worte verhält, wird in katastrophalen Augenblicken ihr Opfer. Dann aber sind es die unbestimmten, die verschwimmenden Begriffe, die am stärksten ansprechen. Das Wort »Verrat« war solch ein Begriff. Die wenigsten verbanden damit die klare Vorstellung eines wirklichen Geschehnisses. Dennoch löste es alle feindseligen Instinkte aus und gab ihnen Richtung, freilich nicht diejenige, welche die Muchtars wünschten. Die Führer, all diese Notabeln und Bonzen, hatten sich verschworen, das Volk aufzuopfern, und dies nur, um sich selbst zu retten. Sie trugen die Schuld, daß man auf den Musa Dagh gezogen war und damit die sichere Vernichtung auf sich genommen hatte. Pastor Harutiun Nokhudian, der ist der einzige wahre Volksfreund gewesen. Er und seine Gemeinde lebten jetzt, schon nach der Umsiedlung, im Osten ärmlich, aber in ruhigen Verhältnissen. Immer dichter hagelten die Schmährufe gegen den Führerrat. Die Gesellen von der Südbastion drängten sich überall in die Menge, schienen aber die ganze Erregung als eine Art Lustbarkeit zu empfinden, die sie erfreute, aber nichts anging. Dort aber, wo sie standen, stieg die Gärung auf wie Kohlensäureblasen in einem Trank.

      Auch der Beschwichtigungsversuch, den Aram Tomasian jetzt unternahm, schlug fehl. Die leidige Geschichte