Heftig schüttelte Michaela den Kopf. »Für mich nicht, Herr Doktor. Ich empfinde ein solches Gespräch als unanständig.« Sie kämpfte mit sich, denn es kostete Mut, die nächsten Worte auszusprechen. »Als Sie vorhin von… Gebärmutter und … Eierstöcken sprachen, wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Das sind Worte, die niemand in unserer Familie jemals in den Mund genommen hätte.«
Dr. Daniel fühlte Mitleid mit der jungen Frau.
»Wie wurden Sie aufgeklärt, Frau Kraus?« wollte er wissen. Michaela schluckte. »Überhaupt nicht. Meine Mutter war der Meinung, Aufklärung käme ganz von selbst, wenn man erst verheiratet ist.« Sie senkte den Kopf. »Natürlich habe ich Fragen gestellt, wenn meine Freundinnen über Dinge sprachen, von denen ich keine Ahnung hatte. Dann hat meine Mutter mir aus der Bibel vorgelesen. Die Frau ist dem Manne untertan und solche Dinge.«
Dr. Daniel hatte Mühe, einen Seufzer zu unterdrücken. Wie konnte es immer noch Eltern geben, die ihre Kinder so unwissend ins Leben schickten?
»Ich wünschte, Sie hätten schon früher mit mir sprechen können«, erklärte er aus diesen Gedanken heraus. »Am besten noch vor Ihrer Ehe.« Er zögerte. »Frau Kraus, ich sage es nur ungern, aber… Sie sollten sich in psychiatrische Behandlung begeben.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Michaela den Arzt vor sich an. »Ich bin doch nicht verrückt!« Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein, Herr Doktor, zu einem Irrenarzt gehe ich nicht!«
»Ein Psychiater ist kein Irrenarzt«, wandte Dr. Daniel ein. »Und mir scheint…«
Wieder schüttelte Michaela den Kopf. »Nein, Herr Doktor, zu einem Psychiater gehe ich nicht. Lieber lebe ich so weiter wie bisher.« Sie schwieg einen Moment, dann sah sie Dr. Daniel mit nahezu flehendem Blick an. »Können Sie mir denn nicht helfen? Zu Ihnen hätte ich Vertrauen.«
Dr. Daniel atmete tief durch, dann nickte er. »Einverstanden, Frau Kraus. Ich bin auf diesem Gebiet zwar kein Fachmann, aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen.«
In Michaelas Gesicht ging die Sonne auf. »Danke, Herr Doktor.«
*
Rainer Bergmann, der Chef des Chemiewerkes CHEMCO, war nicht sehr überrascht, als die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde und sein Vater wie ein Orkan hereinstürmte.
»Was fällt dir ein, diesen Metzler in mein Werk zu lassen!« fuhr er seinen Sohn an.
Gelassen lehnte sich Rainer zurück. Seit seinem Auszug aus der Bergmann-Villa war es das erste Mal, daß sein Vater wieder mit ihm sprach. Noch immer hatte der alte Martin Bergmann es seinem Sohn und seiner Schwiegertochter nicht verziehen, daß sie »nur« ein Mädchen zustande gebracht hatten, und er hatte die kleine Claudia noch nicht ein einziges Mal angeschaut.
»Wolfgang Metzler ist mein Freund«, entgegnete Rainer jetzt mit unerschütterlicher Ruhe. »Und er arbeitet bei mir, weil es in Steinhausen und Umgebung keinen anderen Arzt gibt, der auch nur einen Fuß in die CHEMCO setzen würde. Die vielen Unfälle, die sich in den letzten Jahren hier ereignet haben, haben sich nämlich herumgesprochen.« Er schwieg kurz. »Außerdem ist Wolfgang ein ausgezeichneter Arzt – der beste, den ich finden konnte.«
Unwillig winkte Martin Bergmann ab. »Das ist mir egal. Dem Kerl wird gekündigt – auf der Stelle.«
Da lächelte Rainer. »Tut mit leid, Vater, aber du hast in diesem Werk nichts mehr zu sagen. Das war meine Bedingung, und du hast sie akzeptiert.« Er legte einen Zettel auf den Tisch. »Hier, das sind deine Worte: ›Nimm die Firma, und mach damit, was du willst.‹ Vor zwei Wochen hast du mir diesen Brief geschrieben – einen Brief, der es nicht wert ist, so bezeichnet zu werden. Er enthält keine Anrede und keine Unterschrift, aber im Grunde habe ich nach allem, was ich in den letzten Wochen mit dir erlebt habe, mit nichts anderem gerechnet. Wer einer jungen Mutter vorschlagen kann, ihr Baby mit einer anderen Mutter zu tauschen, nur damit ein Sohn in den geheiligten Hallen der Bergmann-Villa Einzug halten kann…«
»Halt den Mund!« brauste Martin Bergmann auf. »Ich habe dir schon einmal gesagt: Wer nicht fähig ist, einen Sohn zu zeugen, der muß ihn sich auf andere Weise beschaffen.«
»Ich wollte gar keinen Sohn«, entgegnete Rainer ungerührt. »Claudia ist genau das, was Anke und ich uns gewünscht haben.«
»Dir ist nicht zu helfen«, knurrte Martin Bergmann, drehte sich um und verließ Rainers Büro, wobei er es nicht lassen konnte, die Tür hinter sich zuzuschlagen.
Rainer sah seinem Vater nach, dann seufzte er tief auf. Martin Bergmann würde sich wohl nie mehr ändern. Er schien einen Stein an der Stelle zu haben, wo andere Menschen ihr Herz hatten. Rainer konnte sich nicht erinnern, von seinem Vater auch nur einmal liebevoll in den Arm genommen worden zu sein.
Er seufzte noch einmal, dann wanderte sein Blick zu dem Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte seine junge Frau Anke und die neugeborene Claudia. Während er Mutter und Kind betrachtete, huschte ein zärtliches Lächeln über sein Gesicht. Lange hatte Rainer jedoch nicht Zeit, sich in den Anblick der geliebten Frau und seiner Erstgeborenen zu vertiefen, denn die Tür zu seinem Büro wurde erneut geöffnet – diesmal allerdings von seiner Sekretärin Gerda Salling.
»Herr Bergmann, entschuldigen Sie die Störung, aber Dr. Metzler möchte Sie sprechen«, erklärte sie.
Rainer stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Bringen Sie ihn herein, Frau Salling.«
Das war nicht nötig. Dr. Metzler hatte schon hinter der Sekretärin gestanden und betrat nun Rainers Büro. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er nicht zu einer harmlosen Plauderei gekommen war.
»Gibt’s Probleme?« erkundigte sich Rainer dann auch sofort.
Dr. Metzler nickte. »Das kann man wohl sagen. Ich habe dir gestern eine Liste heraufgeschickt, auf der ich Arzneimittel notiert habe, die ich hier dringend brauche. Warum sind die Sachen nicht da?«
Heiße Verlegenheit breitete sich in Rainer aus. Er hatte es gestern so eilig gehabt, zu Anke und Claudia nach Hause zu kommen, daß er Wolfgangs Bestellung total vergessen hatte.
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach er.
»Das will ich auch hoffen«, erklärte Dr. Metzler in hartem Ton. »Wenn es heute zu einem Unfall kommt, habe ich das richtige Medikament bestimmt nicht zur Hand. In Wengers Labor wird mit Blausäure gearbeitet. Weißt du, was das bedeutet?«
Rainer errötete erneut. »Ich bin Chemiker, falls dir das entfallen sein sollte. Und ich weiß…«
»Na also«, fiel Dr. Metzler ihm ins Wort. »Dann schau, daß du das bestellte Zeug herbringst. Wenn sich da unten einer mit Blausäure vergiftet, dann habe ich kein Milligramm 4-DMAP zur Hand. Das bedeutet dann den sicheren Tod.«
Rainer schluckte. Natürlich kannte er die fatalen Auswirkungen von Blausäurevergiftungen, aber nie war er auf den Gedanken gekommen, daß so was in seiner Firma geschehen könnte.
Dr. Metzler erkannte, was in seinem Freund vorging, und plötzlich tat es ihm leid, weil er gleich so barsch geworden war.
»Schon gut, Rainer«, meinte er versöhnlich. »Ich weiß ja, daß sich all deine Gedanken um deine kleine Tochter drehen. Das ist verständlich, wenn man erst so kurze Zeit Vater ist, und es muß ja innerhalb der nächsten Stunden nicht gleich zu einem Unfall kommen, aber ich mußte dich auf diese Möglichkeit hinweisen. Und Tatsache ist auch, daß ich die Medikamente schnellstens brauche.«
Rainer nickte. »In spätestens einer Stunde hast du alles, was du brauchst. Und… entschuldige, daß ich es vergessen habe.«
»Ist schon in Ordnung«, entgegnete Dr. Metzler, dann lächelte er. »Und? Wie geht’s deinen beiden Mädchen?«
Rainer schmunzelte. »Ich nehme an, es ist ein Kompliment, wenn du meine Frau als Mädchen bezeichnest.«
»Selbstverständlich!«