Unwillkürlich stiegen Karina Tränen in die Augen. »Es muß schrecklich sein, überhaupt niemanden mehr zu haben.« Dann stand sie spontan auf und schlang beide Arme um den Nacken ihres Vaters. »Papa, ihr müßt diese Klinik bauen. So etwas Schreckliches darf nie mehr passieren!«
*
Die junge Empfangsdame Gabi Meindl war erstaunt, als der Steinhausener Pfarrer Klaus Wenninger am Montagmorgen Dr. Daniels Praxis betrat.
»Guten Morgen, Gabi«, begrüßte er sie lächelnd. Da er die Fünfundzwanzigjährige einst getauft hatte, hielt er nicht viel von einer förmlichen Anrede. Immerhin war er sozusagen seit Menschengedenken hier in Steinhausen Pfarrer und kannte die meisten Einwohner schon von frühester Kindheit an. Und als er Gabis offensichtliches Staunen bemerkte, konnte er einfach nicht widerstehen.
»Mach deinen Mund wieder zu – es zieht«, erklärte er mit einem schalkhaften Grinsen.
Gabi Meindl errötete bis unter die Haarwurzeln, trotzdem war sie um keine Antwort verlegen.
»Es kommt nicht so häufig vor, daß ein Pfarrer zum Frauenarzt geht«, konterte sie.
Klaus Wenninger lachte. »Du bist ja ganz schön schlagfertig geworden. Aber es ist eigentlich gar nicht so, wie du es ausgedrückt hast. Nicht ich komme zu Dr. Daniel, sondern er hat mich zu sich gebeten. Kleiner Unterschied, nicht wahr?«
Gabi lächelte. »Stimmt. Trotzdem muß ich Sie bitten, einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen, Hochwürden. Ich werde Sie aber gleich beim Herrn Doktor anmelden.«
»In Ordnung, mein Kind.« Pfarrer Wenninger nickte ihr lächelnd zu und betrat dann nach kurzem Anklopfen das Wartezimmer.
»Guten Morgen, Frau Kraus«, grüßte er freundlich, als er seine eifrigste Kirchgängerin erkannte, und es erstaunte ihn ein wenig, daß die junge Frau so tief errötete.
»Guten Morgen, Hochwürden«, brachte sie ein wenig mühsam hervor.
Doch bevor sich Pfarrer Wenninger noch weitere Gedanken darüber machen konnte, wurden er und Michaela Kraus auch schon ins Sprechzimmer gebeten. Dr. Daniel begrüßte erst die junge Frau, dann wandte er sich dem Pfarrer zu.
»Guten Morgen, Hochwürden. Ich bin froh, daß Sie sich Zeit für mich nehmen, obwohl Sie keine Ahnung haben, worum es geht«, erklärte er. Er bot dem Pfarrer und Michaela Platz an, dann setzte auch er sich wieder.
Da Michaela den Kopf demonstrativ gesenkt hielt, ahnte Dr. Daniel, daß er selbst das heikle Thema anschneiden mußte.
»Frau Kraus war einverstanden, Sie zu unserem Gespräch zu bitten, Hochwürden«, begann er schließlich. »Es handelt sich um ein psychisches Problem, das eng mit der katholischen Lehre verbunden ist.«
Pfarrer Wenninger runzelte die Stirn. »Sie haben das jetzt zwar sehr schön ausgedrückt, Herr Dr. Daniel, aber wenn ich ehrlich bin – ich verstehe kein Wort.«
Nun hob Michaela den Kopf. »Ich habe schwer gesündigt, Hochwürden. Ich… ich war mit meinem Mann zusammen, bevor wir geheiratet haben.«
Pfarrer Wenninger tauschte einen raschen Blick mit Dr. Daniel.
»Ach, so ist das«, murmelte er, dann griff er nach Michaelas Hand und tätschelte sie väterlich. »Normalerweise nehme ich es mit dem Beichtgeheimnis ja sehr genau, aber da wir hier unter uns sind und Dr. Daniel offenbar bestens Bescheid weiß, wage ich es auszusprechen. Soviel ich weiß, waren Sie wegen dieser Geschichte doch schon mal bei mir, Frau Kraus.«
Michaela nickte. »Ja, aber darum geht es nicht, Hochwürden.«
»Frau Kraus empfindet das intime Zusammensein mit ihrem Mann noch als Sünde«, erläuterte Dr. Daniel. »Ich muß dazu ausführen, daß sie in ihrer Jugend sehr streng katholisch erzogen wurde.«
Pfarrer Wenninger nickte. »Das dachte ich mir schon. Vermutlich wurde Ihnen von klein auf eingetrichtert, daß Sexualität etwas Unanständiges ist, über das man nicht spricht und das man – wenn überhaupt – nur ungern tun darf.«
Michaela errötete tief bei diesen Worten. Es war nicht allein die Tatsache, daß Pfarrer Wenninger damit den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf getroffen hatte, sondern vielmehr der Umstand, daß er als Geistlicher so offen über solche Dinge sprach.
»Sie wuchsen auf in dem festen Glauben, daß alles, was sich unterhalb der Gürtellinie befindet, nicht wert ist, um darüber zu sprechen«, fuhr Pfarrer Wenninger fort.
Michaelas Röte vertiefte sich noch, doch sie zwang sich zu nicken.
Pfarrer Wenninger seufzte. »Es ist wirklich unfaßbar, was manche Eltern ihren Kindern im Namen der Kirche antun. Sehen Sie, Frau Kraus, ich bin Geistlicher, und selbstverständlich würde ich das, was in der Bibel steht, niemals in Frage stellen. Sicher kennen Sie das Zitat Gottes: ›Seid fruchtbar und mehret euch‹. Er hat aber nicht gesagt, daß der Körper einer Frau etwas Unanständiges ist. Sicher steht in der Bibel nichts von Lust und Leidenschaft, aber ich für meinen Teil bin der Meinung, daß nichts Verwerfliches oder Sündiges dabei ist, die Liebe zu genießen. Und damit meine ich alle Arten der Liebe… die geistig-seelische wie auch die körperliche. Und ob das mit oder ohne Trauschein geschieht, darf heute nicht mehr ganz so eng bemessen werden. Wichtig ist, daß die körperliche Vereinigung aus Liebe geschieht und nicht aus Berechnung oder Lust an der Abwechslung.«
Voller Bewunderung war Dr. Daniel diesem langen Monolog gefolgt, und unwillkürlich dachte er, daß sich das, was Pfarrer Wenninger da gesagt hatte, durchaus für eine Predigt eignen würde. Vielleicht würden dann einige der besonders streng denkenden Eltern ihre Kinder anders erziehen.
Auch Michaela hatte den Worten des Pfarrers interessiert gelauscht, und dabei hatte sie sich mehr und mehr entspannt.
»Ich habe das Gefühl, als könnten Sie in Zukunft über vieles ein wenig freier und offener denken«, meinte Dr. Daniel, der Michaelas Veränderung bemerkt hatte. »Trotzdem möchte ich an dieser Stelle etwas loswerden. Nach allem, was ich während unserer Gespräche über Sie erfahren habe und was Hochwürden Wenninger gerade gesagt hat, finde ich es dringend erforderlich, daß Sie mit Ihrem Mann darüber sprechen. Die Erziehung, die Ihre Eltern Ihnen angedeihen ließen, ist nichts, wofür Sie sich schämen müßten. Und ich bin sicher, daß Ihr Mann auch verstehen wird, weshalb Sie ihm jahrelang etwas vorgespielt haben. Aber meines Erachtens können Sie die eheliche Gemeinschaft nur dann wirklich genießen, wenn Sie und Ihr Mann sich das besondere Gefühl füreinander gemeinsam erarbeiten.«
Pfarrer Wenninger nickte zustimmend. »Damit hat Dr. Daniel sicher recht. Und ich möchte hinzufügen, daß ich Ihnen jederzeit mit meinem Rat zur Seite stehe.« Er schwieg einen Moment. »Sie sind hier in Steinhausen beileibe nicht die einzige junge Frau, die mit derartigen Problemen zu kämpfen hat. Deshalb wurde auf meine Initiative hin eine Selbsthilfegruppe gegründet. Wenn Sie Interesse haben, dann kommen sie doch mal. Den Termin für die nächste Gruppenstunde habe ich im Moment zwar nicht im Kopf, aber wenn Sie zu mir ins Pfarrhaus kommen, kann ich Ihnen Auskunft geben. Und ich möchte Ihnen zwei Bücher ans Herz legen, mit denen junge Frauen in Ihrer Situation schon viel geholfen wurde. Das eine wurde von einem katholischen Religionspädagogen geschrieben und setzt sich mit dem Problemkreis Lust und Moral auseinander, das andere enthält verschiedene Übungen, mit denen man lernt, seinen Körper anzunehmen. Die genauen Titel sowie Autoren und Verlag habe ich leider ebenfalls nicht im Kopf, aber auch das können wir klären, wenn Sie zu mir ins Pfarrhaus kommen.«
Voller Dankbarkeit sah Michaela erst den Pfarrer, dann Dr. Daniel an.
»Ich bin so froh, daß ich zu Ihnen gekommen bin, Herr Doktor«, erklärte sie. »Und ich bin froh, daß ich zugestimmt habe, Sie, Hochwürden, in dieses Gespräch mit einzubeziehen. Mir ist plötzlich so leicht wie nie zuvor in meinem Leben, und ich bin sicher, daß ich das intime Zusammensein mit meinem Mann irgendwann werde genießen können – auch wenn vielleicht noch ein weiter