Scharfauge schlüpfte mit dem Schächtelchen im Busen wieder auf seinen Baum, um den Verlauf der Sache zu überwachen. Zu derselben Zeit wie gestern sah er den gelben Falter wieder um den Apfelbaum her schweben, aber es dauerte heute viel länger als gestern, ehe sich der Schmetterling auf einen Zweig setzte, an welchem ein großer Goldapfel hing. Sofort ließ sich Scharfauge von seinem Baume herunter, näherte sich dem Goldapfelbaum, ließ eine Leiter anlegen, kletterte sachte hinauf, um den Schmetterling nicht zu scheuchen, und setzte seine kleinen Weber je auf drei Zweige. Eine Spinne kam so einige Spannen über dem Schmetterling, die andere zu seiner Rechten, die dritte zu seiner Linken zu sitzen; dann beschrieb Scharfauge mit dem Finger eine Linie in die Kreuz und die Quer um den Schmetterling herum. Dieser saß mit aufgerichteten Flügeln unbeweglich da. Mit Sonnenuntergang war der Wächter wieder in seinem Baumversteck. Von da aus sah er zu seiner Freude, wie die drei Gesellen um den Schmetterling her von allen Seiten ein Gehege machten, aus welchem das Männlein nicht hoffen durfte zu entkommen, wenn anders die Kraft, deren der Zauberer sich gerühmt hatte, sich bewähren würde. Wohl suchte unser Mann auf seinem Baume sich vor dem Einschlummern zu hüten, aber dennoch waren ihm mit einem Male die Augen zugefallen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, aber ein großer Lärm hatte ihn plötzlich aufgeweckt. Als er hinsah, nahm er wahr, daß die Wachtsoldaten wie die Ameisen um den Goldapfelbaum herum liefen und tobten; auf dem Baume aber saß ein alter graubärtiger Mann, einen Goldapfel in der Faust, in einem eisernen Netze. Hurtig stieg Scharfauge von seinem Wipfel herunter, aber ehe er den Goldapfelbaum erreicht hatte, war auch schon der König da, der bei dem Lärm der Wachen aus dem Bette gesprungen und herbeigeeilt war, um zu sehen, was sich Unerwartetes in seinem Garten zutrug. Da saß nun der Dieb im Eisenkäfig und konnte nirgends hin »Geehrter König,« sagte dann Scharfauge: »jetzt könnt ihr euch ruhig niederlegen und bis zum hellen Morgen schlafen, der Dieb entkommt uns nicht mehr. Wäre er auch noch so stark, so kann er doch die durch Hexenkraft entstandenen Maschen seines Käfigs nicht zerreißen.« Der König dankte und befahl dem Haupthaufen der Wachtsoldaten ebenfalls schlafen zu gehen, so daß nur noch einige unter dem Baume auf Wache blieben; Scharfauge, der zwei Nächte und zwei Tage gewacht hatte, ging ebenfalls um auszuschlafen.
Am andern Morgen ging er mit dem Zauberer in des Königs Schloß. Der Zauberer war froh, als er den Dieb im Käfig fand und wollte ihn auch nicht eher herauslassen, als bis das Männlein seine wahre Gestalt gezeigt haben würde. Zu dem Ende schnitt er ihm den halben Bart unter dem Kinne ab, ließ Feuer bringen und fing an die Barthaare zu sengen. O der Pein und Qual, welche der Vogel im Eisenkäfig jetzt auszustehen hatte![16] Er schrie jämmerlich und überschlug sich vor Schmerz, aber der Zauberer ließ nicht ab, sondern sengte immer mehr Haare, um den Dieb mürber zu machen. Dann rief er: »Bekenne, wer du bist?« Das Männlein antwortete: »Ich bin des Hexenmeisters Piirisilla Knecht, den sein Herr ausgeschickt hat zu stehlen.« Der Zauberer begann wieder die Barthaare zu sengen. »Au, au!« schrie der Hexenmeister, »laßt mir Zeit, ich will bekennen! Ich bin nicht der Knecht, ich bin des Hexenmeisters Sohn.« Abermals wurden Haare gesengt, da rief der Gefangene heulend: »Ich bin der Hexenmeister Piirisilla selbst.« »Zeige uns deine natürliche Gestalt — oder ich senge wiederum,« befahl der mächtige Zauberer. Da begann das Männlein im Käfig sich zu strecken und auszudehnen, und war in wenig Augenblicken zu einem gewöhnlichen Manne angewachsen, der die Entwendung der Goldäpfel ohne Umschweife eingestand. Jetzt wurde er sammt dem Käfige vom Baume heruntergenommen und gefragt, wo das Gestohlene versteckt sei? Er versprach die Stelle selbst zu zeigen, aber Scharfauge bat den König, den Dieb ja nicht aus dem Käfig zu lassen, denn sonst könnte er sich wieder in einen Schmetterling verwandeln und ihnen entkommen. Ehe er aber alle Diebslöcher angab, mußte er noch manches Mal gesengt werden, und als endlich alle Goldäpfel herbeigeschafft waren, wurde der böse Dieb im Käfig verbrannt und seine Asche in die Luft gestreut.
Als der König seinen Schatz wieder hatte, zahlte er dem Scharfauge einen sehr großen Lohn, so daß er auf ein Mal wohl noch reicher ward als seine beiden Brüder. Der König hätte ihn gern in seine Dienste genommen, aber Scharfauge sagte: »Ich kann jetzt keinen Dienst mehr annehmen, sondern muß nach Hause, um meine Eltern zu sehen.« Darauf schenkte ihm der König Pferde, Wagen und Diener, welche ihm seine Reichthümer nach Hause brachten.
Als nun die Brüder im elterlichen Hause wieder beisammen waren, fanden sie sich so reich, daß sie mehr als ein halbes Königreich hätten kaufen können. Die Mutter erinnerte sich jetzt, wie der glückbringende Zwerg das Alles zu Wege gebracht hatte, aber sie verschwieg den wunderbaren Vorfall. Reichthum war jetzt in solchem Maße vorhanden, daß die Söhne gewiß nicht nöthig gehabt hätten sich einen neuen Dienst zu suchen; aber wo fände man wohl auf der Welt den Reichen, der mit seiner Habe zufrieden wäre und dieselbe nicht immer noch zu mehren suchte? Als die Brüder später erfuhren, daß eines überaus reichen Königs Tochter im Nordlande demjenigen zu Theil werden sollte, der drei besonders schwierige Dinge ausführen könnte, die bis dahin noch keinem möglich gewesen waren — beschlossen sie einmüthig, die Sache zu versuchen. Es waren schon Leute genug von weit und breit erschienen, um sich daran zu versuchen, aber Keiner war im Stande gewesen die Aufgaben zu lösen, denen ihre Kräfte nicht gewachsen waren. Einem Einzelnen zumal war es ganz unmöglich das Verlangte zu vollbringen. Als die Brüder den Entschluß gefaßt hatten, machten sie sich selbdritt auf den Weg, und damit sie rascher vorwärts kämen, trug Schnellfuß die beiden Andern von Zeit zu Zeit auf seinem Rücken weiter. Weil nun aber die Arbeit von einem Manne gethan werden sollte, so konnten sie nicht alle drei zugleich vor den König treten. Schnellfuß wurde ausgesandt, Erkundigungen einzuziehen. Die drei Probestücke, welche der künftige Schwiegersohn des Königs ausführen sollte, waren folgende: Erstens sollte er einen Tag mit einer großen Rennthierkuh auf die Weide gehen und Sorge tragen, daß ihm das windschnelle Thier nicht davon laufe; Abends mit Sonnenuntergang sollte er es wieder in den Stall bringen. Zweitens sollte er Abends das Schloßthor verschließen. Das dritte Probestück erschien als das schwerste. Er sollte nämlich mit seinem Bogen einen Apfel wegschießen, dessen Stiel ein Mann auf einem hohen Berge im Munde hielt, ohne daß der Mann Schaden nähme, und so, daß der Pfeil mitten durch den Apfel ginge. Die beiden ersten Arbeiten schienen wohl nicht so schwer, doch hatte Niemand sie bisher ausführen können, und zwar deßhalb, weil es nicht mit rechten Dingen zuging. Die Rennthierkuh besaß nämlich eine so wunderbare Schnelligkeit, daß sie in einem Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die ganze Welt hätte laufen können. Wie konnte ein Mensch mit ihr aushalten? Bei dem zweiten Probestück war Hexerei im Spiel. Eine Hexe hatte sich in den eisernen Pfortenriegel verwandelt, und wenn der Mann die Leiter hinanstieg, um den Riegel anzufassen, so packte sie mit höllischer Kraft die Hand des Unglücklichen, und keine Gewalt konnte sie befreien, bis die Hexe selber los ließ. Das war aber noch nicht Alles — in demselben Augenblicke, wo die Hand festgeklemmt war, fing der Pfortenflügel an, wie vom Winde geschüttelt hin und her zu tanzen. So mußte der an der Hand festgehaltene Mann bis zum Morgen wie ein Glockenschwengel hin und her baumeln, und wenn er endlich losgelassen wurde, war er mehr todt als lebendig. Obendrein lachten der König und die Leute über sein