Timon oder der Menschenfeind
Inhalt: Nach einer Beschimpfung Zeus’ durch Timon, in welcher Lukian seine Kritik an der alten griechischen Religion durchscheinen lässt, folgt ein Dialog zwischen Hermes und Zeus über ihn, der, ursprünglich reich, durch seine Freigiebigkeit und den Undank der Beschenkten arm geworden ist. Zeus hat Erbarmen. Plutos, der Reichtum, soll zu ihm zurückkehren, weigert sich aber zunächst und geht dann doch in Begleitung von Hermes. Als Peneia, die Armut, Timon verlässt, nimmt sie Weisheit und Mühe mit sich. Entsprechend verwendet Timon seinen neuen Reichtum, sich von den Menschen abzuschotten.
Gesprächsteilnehmer: Timon, Zeus, Hermes, Plutos, Peneia, Gnathonides, Philiades, Demeas, Thrasykles
Timon.4 (1) O Zeus, du Freundschaftsstifter, Beschützer des Gastrechts, Versöhner, Hüter der Familie, Blitzeschleuderer, Meineidsrächer, Wolkenversammler, Donnerer – und wie die Namen alle heißen, welche dir die angedonnerten, verrückten Dichter beilegen, zumal, wenn sie um das Silbenmaß verlegen sind (denn dann müssen deine vielen Beinamen helfen, den Einsturz ihrer baufälligen Gedichte zu verhüten oder eine Lücke im Vers auszufüllen): Wo bleibt nun dein niederschmetternder Blitzstrahl, dein weithin dröhnender Donner, dein glühendes grässliches, zuckendes Wetterlicht? Alles das ist eindeutig leere Fabelei, und hinter dem Gebraus der Worte steckt eitel poetischer Dampf. Dein viel besungenes, weithin treffendes, allzeit bereites Flammengeschoss – wie ist es doch gänzlich erloschen und erkaltet und hat auch nicht das kleinste Zornfünkchen mehr übrig, um auf die Köpfe der Frevler zu fahren!
(2) Leute, die im Begriff stehen, einen Meineid zu schwören, würden sich eher vor einem gestern ausgelöschten Lampendocht fürchten als vor der Flamme deines allgewaltigen Blitzstrahls. Es kommt ihnen vor, als ob du eine Kienfackel schwängerst, deren Feuer und Rauch sie nicht zu fürchten haben und von welcher getroffen sie höchstens mit Kohlenstaub bedeckt werden. Daher konnte sich schon ein Salmoneus herausnehmen, dir entgegenzudonnern,5 und man kann es ihm wohl zutrauen, dem stolzen und hitzigen Mann, gegenüber einem so phlegmatischen Zeus. Warum sollte er auch nicht. Es ist doch, als hättest du Alraun im Leib, so schläfrig liegst du da, so wenig kümmerst du dich um alle Meineidigen und Bösewichte, hast trübe und blinde Augen und taube Ohren bei allem, was geschieht, wie tote alte Männer.
(3) Denn solange du noch jung, stürmisch und jähzornig warst, machtest du dir viel mit den Ungerechten und Gewalttätern zu schaffen und gönntest ihnen damals keinen Waffenstillstand, sondern stets war dein Donnerkeil in Bewegung, dein Schild6 in Aktion, dein Donner grollte, deine Blitze schossen ununterbrochen wie die Pfeile in einer Schlacht vor dir her. Die Erde erbebte wie ein gerütteltes Sieb, der Schnee fiel in Massen, es hagelte Felsbrocken, und – um einmal recht derb mit dir zu sprechen – in Zorn und Allgewalt ergoss sich der Regen, ein Strom war jeder Tropfen, sodass zu Deukalions Zeit alle Schiffe in einem Augenblick untergingen und verschlungen wurden und nur mit Not ein einziger kleiner Kasten auf dem Lykorischen Berg sitzen blieb, in welchem sich ein schlechter Ableger des Menschengeschlechts erhielt, um noch schlechterer Nachkommenschaft das Leben zu schenken.7
(4) Darum erntest du auch von ihnen den verdienten Lohn für deine Gleichgültigkeit. Denn niemand mehr opfert dir heute noch oder bringt dir Kränze dar außer gelegentlich bei den Olympischen Spielen, und auch da nur beiläufig, durchaus nicht weil er es für notwendig hält, sondern nur um einem alten Brauch sein Recht zu geben. Über kurz oder lang werden die Leute einen zweiten Kronos8 aus dir machen, o edelster der Götter, und dich von deinem Thron stoßen. Ich sage nichts davon, wie oft sie schon deine Tempel bestohlen haben: Haben sie doch in Olympia Hand an dich selbst gelegt, und du, der Donnerer, hattest nicht einmal das Herz, die Hunde zu wecken oder die Nachbarn herbeizurufen, damit sie herbeieilten und die Diebe fassten, solange diese noch ihren Raub zusammenpackten. Nein, der großmächtige Gigantenwürger und Titanenbändiger sitzt da, mit seinem zehn Ellen langen Blitz in der Hand, und lässt sich die goldenen Locken abschneiden!9 Wann willst du endlich, du sauberer Held, endlich aufhören, solche Frevel ganz zu übersehen? Wann endlich die Ruchlosen bestrafen? Wie viele Phaëthonische Erdenbrände,10 wie viele Deukalionische Fluten wären nötig, um die bodenlose Verruchtheit der Welt zu züchtigen!
(5) Doch ich will vom Allgemeinen schweigen und nur von mir sprechen, der ich so viele Athener aus dem Staub gezogen und aus armen Schluckern zu reichen Männern gemacht, alle Bedürftigen unterstützt, ja ich darf sagen, meinen ganzen großen Reichtum verschwendet habe, um meinen Freunden Gutes zu tun. Und jetzt, da ich auf diese Weise arm geworden bin, kennt mich keiner mehr und sieht mich keiner mehr an von all denen, die sich sonst vor mir geduckt und gebückt und sich an meine Winke gehängt hatten. Begegne ich einem von ihnen auf der Straße, so geht er an mit vorüber, wie man an dem durch den Zahn der Zeit verfallenen Grabmal eines längst verstorbenen Menschen vorübergeht, ohne auch nur seine Inschrift zu lesen. Andere biegen schon, wenn sie mich von fern erblicken, in eine andere Straße ein, als ob sie den Anblick eines Mannes als Unheil bringend betrachten, der noch vor Kurzem ihr Retter und Wohltäter gewesen war.
(6) So hat mich denn die Not auf dieses entlegene Feld hinausgetrieben, wo ich mit diesem Fell auf dem Leib um einen Tagelohn von vier Obolen den Acker bebaue und so nebenher mit meinem Spaten und diesen öden Fluren philosophiere. Was ich dabei gewinne, ist doch wenigstens, dass ich die vielen Menschen nicht mehr sehen muss, die es unverdient gut haben. Das ist es, was mich am meisten ärgert. Drum auf, du Sohn des Kronos und der Rhea, entschüttle dich einmal deines tiefen und langen Schlafes, denn schon länger als Epimenides11 hast du geschlummert. Fache wieder deinen Blitzstrahl an oder entzünde ihn am Oita12 und zeige uns in einem gewaltigen Zornesfeuer wieder den mannhaften, jugendfrischen Zeus, sofern nicht wahr ist, was die Kreter von dir und deinem dort befindlichen Grab fabulieren.13
Zeus. (7) Wer ist denn der Schreier da unten, Hermes, in Attika, am Fuß des Hymettos? Ich meine den schmutzigen Kerl dort in dem Ziegenfell, der dort tief gebückt den Boden behackt. Der freche Mensch schwatzt in einem fort, er muss wohl ein Philosoph sein, sonst ließe er nicht so gottlose Reden gegen uns laufen.
Hermes. Wie, Vater, kennst du denn den Timon nicht mehr, des Echekratides’ Sohn aus Kolyttos?14 Das ist doch derselbe, der kürzlich noch so reich gewesen ist, uns so oft mit herrlichen Opfern und ganzen Hekatomben15 bewirtete, derselbe, bei dem wir die Diasien16 so köstlich zu begehen pflegten.
Zeus. Welche Veränderung! Das soll jener reiche Ehrenmann sein, der immer von so vielen Freunden umgeben war? Was ist ihm denn begegnet, dass er nun so schmutzig und armselig und – aus der schweren Hacke zu schließen, mit der er die Erde bebaut – gar ein Tagelöhner ist?
Hermes. (8) Man kann sagen, seine Gutherzigkeit, seine Menschenliebe, sein Mitleid mit allen Bedürftigen haben ihn aufgerieben. Richtiger gesprochen aber war es sein Unverstand, seine gutmütige Einfalt, sein Mangel an Unterscheidung unter den Freunden. Dies bewirkte, dass er nicht merkte, wie er seine Gefälligkeiten Raben und Wölfen erwies. Der arme Tropf glaubte, dass die Geier, die ihm die Leber benagten,17 lauter gute Freunde aus echtem Wohlwollen wären, während es ihnen doch nur um den Fraß zu tun war. Als sie ihm endlich auch die Knochen säuberlich abgenagt und den letzten Rest Mark ausgesaugt hatten, flogen sie auf und davon und ließen ihn dürr bis auf die Wurzel abgehauen liegen, ohne ihn künftig noch zu kennen oder anzusehen (Wie sollten sie auch?), geschweige denn ihn zu unterstützen oder ihm seine Geschenke zu erwidern. Aus Scham hierüber hat er nun, wie du siehst, die Stadt verlassen, ein Ziegenfell übergezogen und die Hacke ergriffen, um als Tagelöhner das Feld zu bebauen. Dabei ist er voller schwarzer Galle über die Schurken, die durch ihn reich wurden und nun ganz vornehm an ihm vorübergehen, ohne sich auch nur zu erinnern, dass er Timon heißt.
Zeus. (9) Wir dürfen diesen Mann wirklich nicht übersehen und vernachlässigen, er hatte nicht Unrecht, über sein Unglück zu klagen, da wir nahe daran sind, es nicht besser zu machen als jene unseligen Schmarotzer, indem wir eines Mannes vergaßen, der uns so viele fette Hinterviertel von Rindern und Ziegen auf unseren Altären verbrannt hat. Noch jetzt hab ich wahrhaftig den Fettdampf davon in der Nase. Allein die vielen Geschäfte und die Unruhe, welche mir die Menge von Meineiden, Brutalitäten und Straßenräubereien