Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatole France
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027208852
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Nr. 64.

      Ein Mensch kann sich täuschen, denkt er sich. Peter und Paul können sich irren.

      Descartes und Gassendi, Leibniz und Newton, Bichat und Claude Bernard, die alle haben sich irren können. Wir alle irren uns, und zwar sehr häufig.

      Die Möglichkeit, sich zu irren, ist sehr groß und mannigfaltig. Die Wahrnehmung unserer Sinne und das Urteil unseres Verstandes sind oft nichts weiter als bloße Einbildungen und die Ursache von Ungewißheit und Zweifel.

      Man darf sich nicht auf das Zeugnis eines Menschen verlassen.

      Testis unus – testis nullus.

      Aber auf eine Zahl kann man sich verlassen.

      Bastien Matra von Cinto-Monte ist fehlbar – aber der Schutzmann Nr. 64 – wenn man von seiner Person als Mensch absieht – täuscht sich nicht.

      Darum hat das Gericht auch nicht gezögert, das Zeugnis des Doktor David Matthieu zu verwerfen, denn er ist nur ein »Mensch«, und es erkennt die Aussage des Schutzmannes Nr. 64 als richtig an, denn er ist eine »reine Idee«, ein Strahl Gottes, der zu uns herniederstieg.

      Wenn er auf diese Weise urteilt, so sichert der Präsident sich eine Unfehlbarkeit zu, und zwar die einzige, worauf ein Richter Anspruch erheben kann.

      Trägt ein Mensch, der als Zeuge figuriert, einen Säbel, so soll der Richter auf den Säbel hören, nicht auf den Menschen. Der Mensch ist unvollkommen und kann sich irren – ein Säbel nicht, er hat immer recht.

      Der Präsident Bourriche ist vollkommen in den Geist des Gesetzes eingedrungen.

      Die Gesellschaft ruht auf der öffentlichen Macht, und die öffentliche Macht muß als eine erhabene Institution der Gesellschaft respektiert werden. Die Justiz aber hat die Verwaltung der öffentlichen Macht.

      Der Präsident weiß, daß der Schutzmann Nr. 64 ein Teil des Fürsten ist – der Fürst regiert sozusagen in jedem seiner Offiziere.

      Die Autorität des Schutzmannes Nr. 64 zu untergraben, heißt so viel, als den Staat schwächen.

      Oder wie Bossuet in seiner göttlichen Sprache sagt: »Wenn man nur ein einziges Blatt der Artischocke ißt, so ißt man die Artischocke.«

      Alle Säbel des Staates haben dieselbe Richtung. Wollte man sie gegeneinander richten, so würde man die Republik umstürzen.

      Darum wurde auf die Aussage des Schutzmannes Nr. 64 der Angeklagte Crainquebille zu fünfzehn Tagen Gefängnis und fünfzig Francs Geldstrafe verurteilt.

      Mir ist, als hörte ich, wie der Präsident die lauteren und großen Beweggründe auseinandersetzt, die ihn zu diesem Urteil veranlaßt haben:

      »Ich habe dieses Individuum in Übereinstimmung mit dem Schutzmann Nr. 64 verurteilt, denn der Schutzmann Nr. 64 ist ein Teil der öffentlichen Macht.

      Damit Sie klar erkennen, meine Herren, wie klug ich gehandelt habe, so bitte ich, nehmen wir einmal an, ich hätte ein gegenteiliges Urteil gefällt.

      Sie werden sofort sehen, wie verrückt das gewesen wäre. Denn, wollte ich gegen die öffentliche Macht urteilen, so würde mein Urteil einfach nicht vollstreckt werden.

      Der Spruch eines Richters gilt nur, wenn er mit der öffentlichen Macht geht.

      Wohin kämen wir ohne unsere Polizei.

      Ich würde meiner Stellung schaden. Und überdies widersetzt der Geist der Gesetze sich solchem Urteil.

      Den Starken entwaffnen und dem Schwachen die Macht einräumen, das hieße die menschliche Ordnung auf den Kopf stellen, und meine Mission ist, uns dieselbe zu erhalten.

      Die Justiz heiligt bestehende Ungerechtigkeiten. Hat sie sich jemals gegen die Eroberer aufgelehnt oder gegen die Gewalthaber, welche die Macht an sich gerissen haben?

      Wenn eine illegitime Macht sich erhebt, so braucht das Gesetz sie nur anzuerkennen, um sie dadurch legitim zu machen.

      Alles liegt in der Form. Und zwischen schuldig und nicht schuldig entscheidet ein dünnes Blatt gestempelten Papieres.

      Warum waren Sie nicht der Stärkere, Crainquebille? Wenn Sie, nachdem Sie ›verfluchter Polyp‹ gerufen hatten, sich zum Kaiser erklären ließen, zum Diktator, zum Präsidenten der Republik oder auch nur zum Stadtrat, so versichere ich Sie, daß ich Sie weder zu vierzehn Tagen Gefängnis, noch zu einer Geldstrafe von fünfzig Francs verurteilt hätte.

      Sie wären jeder Strafe entgangen, das dürfen Sie mir glauben.«

      So hätte der Präsident Bourriche ohne Zweifel gesprochen, denn er hat einen juristischen Sinn und weiß, was das Tribunal der Gesellschaft schuldig ist, deren Prinzipien er mit Ordnung und Regelmäßigkeit verteidigt.

      Die Justiz ist sozial, und nur böse Geister wollen, daß sie auch menschlich und gefühlvoll sei.

      Man verwaltet sie nach feststehenden Regeln, aber doch nicht mit Gefühlsduseleien oder Klarheit und Intelligenz.

      Man verlangt vor allen Dingen nicht, daß sie gerecht sei. Das hat sie nicht nötig, denn sie ist die Justiz, und der Gedanke einer gerechten Justiz kann wirklich nur in dem Kopfe eines Anarchisten entstanden sein.

      Der Präsident Magnaud fällt allerdings Billigkeitsurteile, aber sie werden kassiert, und das ist die wahre Justiz.

      Der wirkliche Richter wiegt die Zeugenaussagen nach dem Gewicht der Waffen. Das hat man in Crainquebilles Sache gesehen und in manchen anderen, viel berühmteren Fällen.«

      So sprach Jean Lermite, indem er mit langen Schritten den Vorsaal durchmaß.

      Josef Aubaret, der das Gerichtswesen kannte, kratzte sich die Nase und sagte:

      »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, so bezweifle ich, daß der Präsident Bourriche sich zu einer so hohen Metaphysik aufgeschwungen hat. Wenn er die Aussage von dem Schutzmann Nr. 64 gelten ließ, so tat er das lediglich, weil das nun mal alter Brauch ist. In der Nachahmung müssen wir die Beweggründe der meisten menschlichen Handlungen suchen. Wer den althergebrachten Gewohnheiten und Satzungen folgt, wird immer für einen ehrlichen Menschen gelten. Unter ›brave Leute‹ versteht man solche, die es machen wie die andern.«

      Crainquebille ergibt sich in die Gesetze der Republik.

      Als Crainquebille ins Gefängnis zurückgeführt worden war, setzte er sich auf den angeschmiedeten Stuhl und verharrte in stummem Staunen und stiller Bewunderung. Er wußte selbst nicht recht, daß die Richter sich getäuscht hatten.

      Das Gericht hatte ihm seine inneren Schwächen unter der Majestät der Formen verborgen. Er konnte nicht glauben, daß er Recht hatte gegenüber dem Tribunal, dessen Gründe er nicht verstanden hatte. Er vermochte nicht zu fassen, daß etwas bei dieser schönen Zeremonie hinkte. Denn da er weder in die Messe noch ins Theater ging, hatte er in seinem Leben nie etwas so pompöses gesehen, als diese Verhandlung im Gerichtssaal.

      Er wußte wohl, daß er nicht »verfluchter Polyp« gerufen hatte und daß man ihn zu vierzehn Tagen Gefängnis und fünfzig Francs Geldstrafe verurteilt hatte, weil er es gerufen haben sollte, aber allmählich wurde diese Idee zu einem erhabenen Mysterium für ihn, zu einem dieser Glaubensartikel, dem die Frommen anhängen, ohne sie zu verstehen.

      Es war wie eine dunkle, plötzliche Offenbarung – herrlich und schrecklich zugleich.

      Der alte Mann erkannte sich als schuldig, den Schutzmann Nr. 64 in mystischer Weise beleidigt zu haben, wie ein kleiner Junge in der Katechismusstunde Evas Sünde auf sich nimmt.

      Durch seine Verhaftung wurde er belehrt, daß er »verfluchter Polyp« gerufen hatte – also hatte er das in mysteriöser, ihm selbst unbewußter Art getan. Er fühlte sich in eine überirdische Welt versetzt. Seine Verurteilung war für ihn ein geheimnisvolles Wunder.

      Wie er schon von seinem Vergehen keine rechte Vorstellung hatte,