Mit beiden Händen griff er unter die Achseln seines Patienten und schleifte ihn über den Boden ins Freie. Dort half er ihm, sich aufzurichten, was dem jungen Mann nur mit schmerzverzerrter Miene und mit seiner Hilfe gelang.
»Verdammt, das Sitzen … Es geht nicht«, sagte sein Patient gepresst.
Das ließ eindeutig auf eine Verletzung des Steißbeins schließen.
»Atmen Sie erst einmal gut durch«, riet er dem attraktiven Dunkelhaarigen, den er auf Mitte zwanzig schätzte. »Und husten Sie ab. Das Zeug muss raus.«
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Julia jetzt rasch auf ihre Freundin zuging und sie verabschiedete. Nachdem die Friseurin gefahren war, zog sie sich mit ihrer Großmutter ins Haus zurück. Er dankte den beiden Frauen insgeheim für deren Diskretion, für die sie im Ruhweiler Tal auch bekannt waren.
»Legen Sie sich bitte auf die Seite. Ich muss Ihr Steißbein untersuchen«, bat er den jungen Mann.
Da er an der Stelle, unter der das Steißbein saß, kein Hämatom entdeckte, schloss er einen Bruch aus.
»Wenn Sie Glück haben, handelt es sich nur um eine Prellung, die jedoch gleichermaßen schmerzhaft sein kann. Ich gebe Ihnen jetzt eine schmerzstillende Spritze, dann beißen Sie die Zähne zusammen und versuchen, sich mit meiner Hilfe aufzurichten. Ich muss Sie röntgen, und das geht nur in meiner Praxis.«
»O Mann, das war heftig«, murmelte sein Patient sichtlich erschöpft, als er schließlich auf den Beinen stand. »Übrigens, Leon Schubert …« Erneut musste der junge Mann husten.
»Brunner«, erwiderte Matthias, klopfte ihm leicht auf die Schulter und sagte: «Nachdem wir die Sache mit dem Steiß abgeklärt haben, zeige ich Ihnen Atemübungen, die Ihnen die Situation erleichtern werden und die Sie in den nächsten Tagen unbedingt machen sollten.«
Die schwarzen Augen seines Gegenübers, die vom Husten und Würgen ziemlich mitgenommen ausschauten, sahen ihn gequält an. Dennoch zeigte der junge Mann einen Sinn für Humor, als er heiser und stockend sagte: »Gestern Regen, heute Strohballen, was kann denn hier noch alles vom Himmel kommen?«
Da sah Matthias Brunner Julia vor dem Stubenfenster stehen. Sie machte sich natürlich Sorgen. Ganz spontan erwiderte er bei ihrem Anblick: »Blonde Engel, wenn man Glück hat.«
*
Ein blonder Engel, dachte Leon, als die Praxistür aufging und Julia Winter herein kam.
»Hallo, Julia«, begrüßte die große kräftige Sprechstundenhilfe die junge Frau herzlich. »Du kannst Herrn Winter wieder mitnehmen. Er hält sich sehr wacker für das, was er erlebt hat.«
Julia atmete auf, das sah er. Dann kam sie auf ihn zu. Dieses Mal in einer weißen Jeans, die ihre perfekte Figur wunderbar zur Geltung brachte, und einem schlichten weißen Shirt. Das Haar trug sie offen, was ihr tatsächlich etwas Engelhaftes verlieh.
»Schwester Gertrud hat mich angerufen und gesagt, ich könnte Sie abholen«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, das allein schon alle Wunden heilte.
Obwohl sein Hals schmerzte, als hätte dort ein Feuer gewütet, erwiderte er: »Ich habe Glück gehabt. Es ist nur eine Steißbeinprellung.« Er stützte sich auf den Stuhllehnen ab und hievte sich hoch. »In den nächsten Tagen werde ich nur auf einem solchen Ring sitzen können.« Mit schiefem Lächeln zeigte er auf den Sitzring, der auf dem Stuhl lag.
»Können Sie denn überhaupt gehen?« Besorgt sah sie ihn an.
Er konnte besser gehen als sitzen oder liegen. Dennoch antwortete er mit treuherzigem Blick: »Schlecht.« Die Versuchung war einfach zu groß, noch einmal Körperkontakt zu Julia zu bekommen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gern auf Sie stützen.«
Er bemerkte, wie die Sprechstundenhilfe ihm einen strafenden Blick über die Rezeption schickte, dann erschien ein Schmunzeln auf ihrem vollen Gesicht. Schwester Gertrud hatte den Braten gerochen. Na gut, und wenn schon …
Er bedankte und verabschiedete sich und verließ, gestützt durch Julias Arm um seine Mitte, die Praxis.
*
Die frische klare Luft auf der Schwarzwaldhöhe empfand Leon als wohltuend. Er blieb stehen, den Arm um Julias Schulter gelegt, ihrer umschlang immer noch seine Mitte.
»Ich habe noch nie eine so schön gelegene Arztpraxis gesehen«, sagte er, während sein Blick über das alte Schwarzwaldhaus des Arztehepaares, das daran anschließende Praxisgebäude und die Miniklinik schweifte. Sie lagen inmitten blühender Wiesen. »Diese Naturidylle nimmt bestimmt vielen Patienten die Angst vor einem Arztbesuch. So geht es mir jedenfalls«, fügte er lächelnd hinzu.
Julia lachte. »Die Leute kommen sogar von weit her, um sich von Dr. Brunner behandeln zu lassen. Aber nicht nur wegen der schönen Gegend. Unser Landarzt ist Mediziner, Psychologe und manchmal auch Sozialarbeiter in einer Person. Das unterscheidet ihn von den meisten seiner Kollegen.«
»Den Eindruck machte er auch auf mich. Allein schon seine menschliche natürliche Art vertreibt einem die Schmerzen.«
»Wie lange dauert denn Ihre Heilung?«, erkundigte sich Julia. Dabei sah sie forschend zu ihm hoch. Immer noch standen sie dicht nebeneinander, Arm in Arm.
»Dr. Brunner meint, dass sich der Körper nach zwei bis sechs Wochen regeneriert haben sollte. Er hat mir Tabletten verschrieben und Spritzen sowie diesen Sitzring, der eine entspannende Freilagerung des Steißbeins während des Sitzens bewirkt.« Mit gespielt gequälter Miene wedelte er mit dem besagten Stück, das Schwester Gertrud ihm geliehen hatte, durch die Luft. »Auf diesem Ding werde ich die nächste Zeit sitzen müssen.«
Julia lachte. »Wenn es doch nur das ist …«
*
»Wunderschön ist es hier«, sagte Leon und vergaß beim Anblick der blumenübersäten Wiesen, alten Höfe und bewaldeten Höhen seine missliche Situation. »Gestern bei dem Regenwetter war von alledem nichts zu erkennen.« Dann seufzte er und sah Julia von der Seite an. »Tja, mit Reiten ist jetzt nichts mehr. Vom Angeln in der Steinache hat Dr. Brunner mir auch abgeraten, aber Sie sprachen heute Morgen von Ausflügen in die Umgebung …«
Julia warf ihm einen verblüfften Seitenblick zu. »Sie wollen wandern?«
»Nein, ich meine Ausflüge mit dem Auto«, stellte er richtig, wobei er dabei etwas ganz Bestimmtes im Sinn hatte.
Ihre perfekt geformten Brauen schnellten hoch, während sie den Blick auf die Landstraße gerichtet hielt. »Ist das nicht zu gefährlich? Können Sie denn überhaupt schmerzfrei Gas geben oder bremsen?«
»Ich dachte eher daran, dass Sie das für mich tun würden«, antwortete er geradeheraus.
Wieder ein skeptischer Seitenblick. »Das heißt, ich soll Sie durch die Gegend fahren?«
»Ich dachte, der Gast ist bei Ihnen König.«
Sie lachte, warm und melodisch, was er fast schon als eine Zusage wertete.
»Ich weiß nicht, ob ich die Zeit dafür habe«, erwiderte sie gedehnt, als würde sie gerade gründlich überlegen. »Wann sollte dieser Ausflug denn stattfinden?«
»Ich dachte an morgen Nachmittag. Für heute hat mir Dr. Brunner Ruhe verordnet, und morgen Vormittag muss ich noch einmal zum Arzt.«
»Und wohin soll es gehen?«
»Einfach nur ein bisschen die Gegend ansehen, zwischendurch irgendwo einkehren …«
»Mit Ihrem komischen Kissen?«
Jetzt musste er lachen. »Na ja, vielleicht irgendwo, wo nicht so viele Leute sind.«
Sie schwieg eine Weile und fuhr mit konzentrierter Miene über den kurvigen