Je öfter er erfolglos anrief, desto unruhiger wurde er. Wie gern hätte er Julia von seiner Unterhaltung mit seinem Vater erzählt. Davon, dass die Weichen für ihn auf Grün standen, dass er in den nächsten Tagen zu ihr zurückkommen und seinen Berufstraum verwirklichen würde. Natürlich wollte er ihr auch endlich sagen, dass er ursprünglich von seinem Vater beauftragt worden war, auf seiner Rückreise von Italien die Pension zu testen, weil sie sozusagen auf seinem Weg gelegen hatte; und dass die Absage von Brandt und Sohn nicht auf sein Konto ging; und dass er schon eine Idee hatte, wie er Geld für die Sanierung der Pension würde auftreiben können.
Gegen zwei Uhr fiel er schließlich erschöpft von der vergangenen Nacht und dem anstrengenden Tag todmüde ins Bett, nicht ohne Julia in Gedanken zu sagen, dass er sie liebte und sie nach dem Aufwachen sofort wieder anrufen würde.
*
Am späten Abend dieses Tages änderte sich das Wetter. Nicht in Düsseldorf, aber im Schwarzwald. Der Himmel wurde mehr und mehr von einer schwarzen Wolkenschicht in Besitz genommen. Wind fegte über die Höhen hinweg. Er ließ die Bäume bedrohlich rauschen und die alten Wände der Pension Winter knacken.
Julia saß am Fenster, drückte die Stirn an die kalte Scheibe und blickte hinaus in die Nacht. Sie hieß das dunkle Wetter willkommen, das so gut zu Niederlagen und traurigen Liebesgeschichten passte. Während ein dichter Platzregen gegen das Haus klatschte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie hörte das schwere laute Ticken der Kuckucksuhr, hörte zu, wie die Zeit verrann. Aufstöhnend stützte sie die Ellbogen aufs Fensterbrett und legte das Gesicht in beide Hände. Eine Weile starrte sie so in die innere Dunkelheit und suchte nach dem Licht, das sie verloren hatte.
Wo waren die Glückssterne der vergangen Nächte, die ihr und Leon so zuversichtlich zugeblinkt hatten? Wo war Leons Liebe geblieben, die sie so vollkommen ausgefüllt hatte? Ja, sie hatte sie erlebt. Die ganz großen Gefühle, eine Liebe, die einmalig bleiben würde. Und Glücksempfindungen, die rauschhafter nicht hätten sein können. Vorbei. Da saß sie nun mit zerrissenem Herzen, und die Einsamkeit brach so heftig über sie hinein, dass ihr übel wurde.
Julia konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Nachdem das Unwetter weitergezogen war, hörte sie dem Regen zu, der immer noch schwermütig sein Lied sang.
*
Am nächsten Morgen standen Julia und ihre Großmutter vor dem Ausmaß der Verwüstung, die das Unwetter angerichtet hatte. An den Holzwänden waren die Einschläge der tennisballgroßen Hagelkörner zu sehen, zwei Fensterscheiben des Kuhstalls waren zerbrochen, ein paar Dachschindeln fehlten.
»Hauptsache, den Tieren ist nichts passiert«, sagte Julia trotz allem voller Dankbarkeit.
»Genau, mein Schatz«, stimmte Hilde ihr zu. »Den Sachschaden bezahlt in solchen Fällen ja die Versicherung.«
Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, ihr endlich zu gestehen, dass sie die letzte Rechnung der Hausversicherung gar nicht hatte bezahlen können. Sie brachte es jedoch nicht über sich, die momentan noch so zuversichtliche Stimmung ihrer geliebten Großmutter zu zerstören.
»Die Steinache ist über die Ufer getreten«, sagte Oma Winter mit Blick auf den reißenden Fluss, der sonst als gemächlich fließender Bach durchs Ruhweiler Tal plätscherte.
»Hoffentlich ist die Brücke noch befahrbar«, murmelte Julia.
Sonst wären sie erst einmal von der Außenwelt abgeschnitten.
»Hallo!«
Der Ruf ließ die beiden Frauen aufblicken. Ein Mann in langem Gummimantel, mit Südwester und hohen Stiefeln kam auf ihren Hof zu. Hilde und ihre Enkelin sahen sich an.
Wer war er?
»Eure Telefonleitung funktioniert nicht mehr«, rief er schon von Weitem den beiden zu.
Da erkannten sie ihn an seiner Stimme: Es war der Landarzt.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Hilde erstaunt.
»Ich war auf der anderen Seite der Steinache bei einem Hausbesuch und wollte Ihnen das Rezept vorbeibringen, dass Sie vergessen hatten.«
»Dafür kommen Sie unter diesen Umständen hierher?«
Matthias lachte sie an. »Ja, klar. Ich wollte Sie vorher anrufen, aber wie gesagt …« Er schaute hoch und entdeckte das, was Julia und Oma Winter noch gar nicht bemerkt hatten.
Die Telefonleitung war aus dem Mast gerissen.
Julia nahm den Schaden mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits konnte Leon sie dadurch nicht erreichen und entband sie der Entscheidung, vielleicht doch die Leitung zu ihm zu öffnen. Andererseits konnte sie jetzt aber auch nicht feststellen, ob er sie überhaupt anrufen würde. Vielleicht hatte er ja gar nicht mehr vor, sich bei ihr zu melden.
»Ist alles in Ordnung?«
Sie sah, wie der forschende Blick des Landarztes über ihr Gesicht glitt.
Bevor sie antworten konnte, sagte ihre Großmutter betont beschwingt: »So, Herr Doktor, jetzt gehen wir erst mal in die gute Stube. Da gibt’s einen heißen Kaffee und ein Gläschen Kirschbrand, reine Medizin zur Vorbeugung gegen eine Erkältung.«
*
Da saßen sie nun, die drei. Die Geweihlampe brannte, und der Kachelofen verströmte eine behagliche Wärme. Draußen herrschte eine Dämmerung, als wäre es bereits Abend. Immer noch hüllten sich die Schwarzwaldhöhen in dichten Nebel, und es regnete.
Oma Winter berichtete dem Landarzt auf dessen vorsichtig gestellte Fragen hin, was passiert war. Sie erzählte von ›Der Pfeife‹, den Absagen der Reiseveranstalter, dem Sanierungsbedarf und ließ auch nicht unerwähnt, wer Leon Schubert war. Sie zeigte Matthias sogar den Internetartikel, den Vera entdeckt hatte, und äußerte den Verdacht gegen Leon, er könnte Julia seine Gefühle für sie nur vorgespielt haben.
Ihre Enkelin schwieg zu alledem. Sie hatte nichts dagegen, dass sich ihre Großmutter dem Landarzt gegenüber so offen zeigte. Dr. Brunner war dafür bekannt, dass er gut zuhören und gut schweigen konnte, dass ihn nicht nur die körperlichen Leiden seiner Patienten interessierten, sondern auch deren seelische Probleme. Und für manchen Ruhweiler hatte er in all den Jahren eine Lösung für dessen ausweglose Situation gefunden. Nur eines würde auch der Landarzt nicht erreichen können: Leon dazu zu bringen, sie tatsächlich so zu lieben, wie er es ihr vorgespielt hatte.
»Vielleicht hat Herr Schubert längst schon angerufen«, sagte Matthias jetzt zu ihr. »Ihr seid ja nicht zu erreichen.«
Julia zuckte nur mit den Schultern.
»Wenn du diesen Mann liebst, musst du dir Klarheit darüber verschaffen, was du von eurer Beziehung zu halten hast«, fuhr er in eindringlichem Ton fort. »Diese Klarheit kann nur er dir geben.«
»Er hätte mir sagen müssen, warum er hier war«, begehrte Julia auf. »Spätestens zu dem Zeitpunkt, als wir einander nähergekommen sind. Er hat mir vorgelogen, er würde hier bei uns eine Schreinerlehre machen, um sich endlich seinen Traum zu erfüllen, obwohl er längst wusste, dass er das Auslandsgeschäft von Brandt und Söhne übernehmen wird.«
»Eine Kundgebung des Unternehmens im Internet reicht nicht aus, um darauf zu schließen, dass Leon Schubert dir Gefühle vorgespielt hat«, erwiderte Matthias ruhig.
Mit feucht schimmernden Augen sah die junge Frau ihn an. »Wie sollen denn unsere Interessen jemals miteinander vereinbar sein? Leon wäre im Ausland, und ich kämpfe hier mit Oma ums Überleben unserer Pension?«
»Du musst doch nicht bei mir bleiben, Kind«, mischte sich Hilde nun energisch ein. »Wie schon gesagt, wir geben hier alles …«
»Ich will aber hier nichts aufgeben, Oma«, widersprach Julia ihr mit fester Stimme. »Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen. Und Leon hat so getan, als würde er sich auch ein solches Leben wünschen, hier in der Natur, als Restaurator zu arbeiten …« Ihre Stimme rutschte ab. Dann räusperte sie sich und setzte sich aufrecht