LOCA MINORIS RESISTENTIAE
Jeder Organismus hat seine sogenannte „Achillesferse“, das heißt eine Stelle, an der er besonders leicht und empfindlich verwundbar ist! Ich zum Beispiel habe meine Achillesferse im Gehirn, aber nicht, wie meine boshaften und heimtückischen Freunde (Feinde sind viel milder gestimmt, indem sie einen in Bausch und Bogen ein für allemal verurteilen) glauben werden, in meinen Denkpartien, sondern in jener mysteriösen Partie des Gehirns, wo die Eifersucht ihren Höllensitz aufgeschlagen hat, und zwar die Eifersucht in bezug auf Männer, die mehr Haare, mehr Geld und weniger Intelligenz als ich besitzen, also drei den Frauen besonders wertvoll erscheinende Eigenschaften! Sobald ich nur ein solches Ungetüm irgendwo erblicke, das mehr Haare, mehr Geld und weniger Intelligenz besitzt als ich, bekomme ich sofort, wie der technische Ausdruck lautet, einen sogenannten „roten Kopf“, und ich denke nur mehr an Browningpistolen, Arsenik oder die Hundspeitsche, natürlich für den anderen! Ich betrachte meine mich bisher fanatisch vergötternde Geliebte als bereits endgültig verloren, und treffe Anstalten, sie grundlos durchzuprügeln! Das sind also meine „loca minorum resistentium“, das heißt zu deutsch, jene Partien unseres komplizierten Organismus, die auf Reizungen besonders empfindlich reagieren, und zwar sofort! Solche Partien haben viele Menschen Kellnern gegenüber oder Raseuren, die sie schlecht bedienen; obzwar in solchen weniger gefährlichen Fällen ein erhöhtes Trinkgeld meistens gute Dienste leistet.
Die „loca minorum resistentium“ haben in neuester Zeit einen besonderen Wert gewonnen für die Herren Ärzte; denn jede Partie des Körpers, über die ein Patient sich heutzutage beklagt, wird vom Arzt sogleich ernst und verständnisvoll als: „Aha, das sind Ihre loca minorum resistentium, mein Lieber — — —!“ bezeichnet, worauf der Patient sich, zwar nicht geheilt, aber um ein Bedeutendes, vor allem um das ärztliche Honorar erleichtert, entfernt. Viele Damen haben solche loca minorum resistentium in ihrem Organismus, im Augenblick, wo sie an einer Dame einen kostbarern Pelz bemerken, als sie selbst besitzen. Aber hier fange ich bereits an banal zu werden, und deshalb schließe ich hiermit rasch diese immerhin interessante Plauderei.
DOLOMITEN
Ich hatte mein ganzes Leben lang von den Dolomiten gehört, einem „Märchen der Natur“. Nun kam ich, per Auto, halb 8 Uhr abends, 11. August, in Toblach an. Eine riesige ungepflegte, ja verwahrloste Bergwiese, die ein feenhafter Berggarten leicht hätte sein können. Ich ging ein paar Schritte die Fahrstraße entlang, die ins Gebirge, Monte Cristallo, führt. Ich sah in die weiße Waldstraße hinein, und war ganz ergriffen. Jahrelang im „Café Central“, Ecke Herrengasse—Strauchgasse, und nun am Eingang in die „Dolomiten“! Ich sah Wälder im Abendschatten und in der Ferne einen leuchtenden riesigen Felsen. Ich kehrte zurück und dachte mir die riesige schrecklich ungepflegte Bergwiese vor dem Riesenhotel, bewachsen mit Zirbelkiefer, Rhododendron, Speik, so ein botanischer Berggarten, mit Murmeltieren und Schneehasen. Aber Toblach begnügt sich, ein „Eingang“ zu sein, und selbst die Geschäftsläden erinnern an „Praterbuden“. Nur irgendwo sah ich in einer Ansichtskartenbude eine 14jährige Verkäuferin. Ich blickte sie an: „Du, du allein paßt in diesen Dolomiten-Märchen-Eingang!“ Da ich den schönen grauen Gems-Kaiser-Lodenhut auf hatte und sehr gebräunt war, blickte sie mich freudig-erstaunt an. Ich wollte etwas sagen, das heißt, ich wollte eben gar nichts sagen, aber als die Ansichtskartengeschäfte abgewickelt waren, blickte ich sie noch immer gerührt an. Sie sagte auch nichts, aber sie spürte ihre Wirkung auf mich. Es war nicht sehr lange, und doch vielleicht oder wahrscheinlich eine besondere Welt, die nie nie mehr wiedererstehen wird. Es ging nicht an, sie länger anzublicken. Und infolgedessen ging ich. Ich lüftete nicht den Hut, damit sie nicht sehe, daß ich kahlköpfig sei; denn ich mußte auf ihre Träumereien Rücksicht nehmen, daß ein verhältnismäßig apart aussehender Herr sie beim Ansichtskartenverkaufe liebevollst angeblickt hatte — — —. So wie wenn er ihr Glück wünschte zu ihrem künftigen Schicksale und sie getreulich segnete mit seinen Augen. Sie hat gewiß niemand davon erzählt, was gäb’ es auch darüber zu erzählen?! Und doch blieb es in ihr. Und doch wird sie, unmittelbar vor einem ersten Kuß der Jugendsinne fühlen: „Nein! Ich sehe nicht auf Deinem Antlitz, Mann, den Zug von Rührung, den der fremde Herr mit dem grauen Gemsjagd-Kaiser-Lodenhute damals hatte — — —.“ Am nächsten Morgen ging es nach Cortina. Rotgraue Bergwelt, sei bedankt, gesegnet! Es türmt sich auf, lichtgrau und rosig, es wächst ins Himmelblau hinein und überall ist Friede — — —.
MAMA
Meine Mama wollte „ein großes Haus“ führen, um ihre wunderschönen Töchter reich zu verheiraten. Das nahm ich ihr übel. Denn, wenn es gelingt, ist es wie ein Haupttreffer auf eine in der Tabaktrafik gekaufte Promesse. Ich bin gegen das „Spiel“ im Leben. Man riskiert zu viel. Das ist es. Also, wie gesagt, ich war sehr dagegen. Aber in meiner Kindheit hatte ich einen vollkommen krankhaften Fanatismus für sie, und meine Liebe zu ihr war keine ruhig-selbstverständliche eines guten anhänglichen Kindes, sondern zehrte an mir, wie wenn ich ein unglücklich Liebender wäre, der an „inneren Zärtlichkeitsgefühlen“ zugrunde geht, während doch Mama mich sehr, sehr, sehr lieb hatte und meinen „kindlichen begeisterten Blick“ zu würdigen verstand. Oft sagte sie: „Du dummer Kerl, was willst du denn, ich hab’ dich ja so wie so riesig gern und außerdem bin ich mit dir sehr zufrieden, der Hofmeister, die Gouvernante, der Violinlehrer und Mr. Palotta, alle, alle loben und lieben dich — — —.“ Aber meine Zärtlichkeit für Mama zehrte an mir. Vor ihr niederknien und den Saum ihres Kleides mit den Lippen berühren, daran dachte ich nicht. Ich sah sie an und war voll übertriebener Zärtlichkeit, als ob ich noch überhaupt bewußtlos in ihrem Schoße läge, von ihren Kräften innerlichst behütet, genährt, gepflegt, so vorzeitig herausgestellt in eine Welt, in die ich noch nicht hineingehörte! Mama! Mama! Als ich mit zehn Jahren, gerade der Primus im Gymnasium, an einer Fußbeinhautentzündung schwer erkrankte, hatte sie ein Jahr lang ihr Bett neben dem meinen und nahm nächtelang meine Seufzer in ihr Herz auf. Nachmittags sang sie im Nebenzimmer Schubertlieder. „Ihre Stimme klingt etwas ermüdet!“ sagte der liebevolle junge Gesangsmeister. „Mein Sohn hat heute Nacht wieder sehr gestöhnt“ erwiderte sie. Eines Tages sagte Professor Dittel: „Es muß geschnitten werden, der Fuß ist ganz in Eiterung.“ Da saß sie nachmittags an meinem Bette und zupfte aus Leinwandfetzen Charpiewolle. „Was machst du da, Mama?!“ — „Daß die Zeit vergeht“ erwiderte sie. Am nächsten Tage sagte Professor Billroth: „Ich pflege in einem solchen Falle noch nicht zu schneiden, es wird sich aufsaugen!“ Da kniete meine Mama vor meinem Bette nieder, aber nur für einen Augenblick. Dann ging sie ins Nebenzimmer und spielte und sang am Klavier die „Forelle“ von Schubert. Der Gesangsmeister sagte: „Heute klingt Ihre Stimme frischer, Sie dürften gestern eine ruhigere Nacht gehabt haben!“ — „Nein,“ sagte sie, „aber ich werde sie heute nacht haben!“
MODERNE ANNONCE