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ein weiterführendes Studium in vielen Fächern mittlerweile auch hier möglich ist. Interessant ist, dass gerade zum 1000. Jubiläum der »Entdeckung« die Zahl isländischer Studenten in den USA mit knapp 500 am höchsten war. Die meisten von ihnen belegten gesellschaftswissenschaftliche Fächer, Jura und Wirtschaftswissenschaften. Seit 2000 ist die Zahl rückläufig und lag 2017 bei 245 Isländern, die in den USA isländisches Auslandsbafög bezogen. Dennoch halten die USA damit einen Spitzenplatz unter den Ländern, die Isländer zum Studieren bevorzugen.

      Die jüngeren Isländer haben eine insgesamt sehr positive Einstellung zu den USA, was auch an deren Allgegenwärtigkeit liegen kann. So wird das Fernsehprogramm – zumindest auf den Privatsendern – von US-amerikanischen Serien und Filmen dominiert. Untersuchungen zeigen, dass heute im isländischen Fernsehen mehr Englisch als Isländisch gesprochen wird, weil die importierten Programme nicht synchronisiert, sondern untertitelt sind. Für 364 000 Menschen würde sich der Aufwand nicht lohnen. Deshalb kommen hier amerikanische Fernsehserien schneller auf den Markt als in Deutschland, wo meine isländischen Bekannten dann das kalte Grauen packt, wenn das Personal von Game of Thrones plötzlich mit überdrehter Stimme deutsch spricht, ohne die Lippen im Einklang zum Gesagten zu haben. Auch Menschen, die in den Nachrichten zu Wort kommen, werden in Island nicht übersprochen. Wird also ein Däne interviewt, hört man ihn dänisch sprechen und muss ihm durch die Untertitel folgen. Deshalb sind die Isländer sehr daran gewöhnt, andere Sprachen zu hören. Vor allem diejenigen, die mit den Privatsendern aufgewachsen sind, haben ausgesprochen gute Englischkenntnisse und einen großen Wortschatz, mit dem sie sehr selbstverständlich umgehen. Englisch ist außerdem seit 1999 die erste Fremdsprache, die die Kinder in der Schule lernen, und längst die Wissenschaftssprache.

      Vorher war das Dänische dominierend, das nun im Allgemeinen als zweite Fremdsprache gelehrt wird. Bis Island 1911 seine eigene Universität bekam, musste man zum Studieren nach Kopenhagen, sodass die meisten wissenschaftlichen Texte von Isländern aus jener Zeit auf Dänisch sind. Die Priorität, die dem Dänischen noch immer eingeräumt wird, mag überraschen. Sie ist jedoch weniger eine Reminiszenz an die ehemalige Zugehörigkeit zu Dänemark als vielmehr zu Nordeuropa. Denn auch wenn das moderne Island in vielerlei Hinsicht US-amerikanisch geprägt ist, beruft es sich bei offiziellen Anlässen immer wieder darauf, ein Teil Nordeuropas zu sein. Isländische Gesetze werden oft mit einem Verweis darauf eingeleitet, dass man sich an der in den anderen nordischen Ländern üblichen Rechtsprechung orientiert habe. Island ist u.a. Mitglied des Nordischen Rats, dessen Arbeitssprachen Schwedisch, Norwegisch und Dänisch sind. Deshalb ist das Beherrschen einer dieser Sprachen für Isländer unabdingbar. Viele meiner Freunde fluchen über den Zwang zum Dänischlernen, da sie Französisch, Deutsch oder Spanisch erst als dritte Fremdsprache wählen können. Die wenigsten sind nach dem Abitur wirklich in der Lage, Dänisch zu sprechen, und geben auch ihrer mangelnden Motivation die Schuld daran. Allerdings können es fast alle gut lesen. Mit der Vermittlung von Dänisch schlägt man zudem mehrere Fliegen mit einer Klappe.

      Die weitaus meisten Isländer, die sich für ein Studium im Ausland entscheiden, gehen zu diesem Zweck nämlich nach Dänemark. In Kopenhagen kann man sich nicht sicher sein, mit Isländisch eine »Geheimsprache« zu sprechen. Während besonders nach dem 11. September 2001 ein Studium in den USA schwieriger geworden und dort sowieso sehr teuer ist, ist es in Dänemark gebührenfrei. Außerdem werden Isländer dort – wie in den anderen nordischen Ländern auch – vom Gesundheits- und Sozialsystem aufgefangen und können sich für viele Stipendien bewerben. 2018 bezogen allein 372 Isländer, die ein Vollzeitstudium in Dänemark absolvierten, die dänische Ausbildungsförderung, die in der Regel nicht zurückgezahlt werden muss. Hinzu kommen Hunderte isländische Studenten, die ihren isländischen Studienkredit für ein Studium in Dänemark nutzen. Also liegt der heimelige Wohlfahrtsstaat mit der belächelten Sprache doch näher als die auf Eigeninitiative setzenden USA. Leif Eriksson ließ sich letztlich auch nicht in Nordamerika nieder, sondern kehrte nach Grönland zurück.

       Das gelobte Land: Kanada oder Skandinavien?

      Die Isländer, die ich kenne, lieben ihr Land und begründen dies mit einem einzigen Satz: Ísland – best í heimi! (»Island – weltweit spitze!«). Auch wenn es sich dabei um keine Erklärung handelt, wird er meist so überzeugend vorgetragen, dass er über jeden Zweifel erhaben ist. Sie kennen die Namen »ihrer« drei Miss World und der isländischen Teilnehmer beim Eurovision Song Contest 1999 und 2009, wo Island den zweiten Platz belegte. Sie gaben sich einem nationalen Freudentaumel hin, als die Filmmusikkomponistin Hildur Guðnadóttir 2020 den ersten Oscar jemals »nach Island« holte – obwohl sie in Berlin lebt. Sie verehren Jón Páll Sigmarsson, der viermal der stärkste Mann der Welt und ein bisschen Islands Maskottchen wurde und sich auch verbal zu wehren wusste. Legendär ist seine Reaktion auf einen Zuschauer, der ihn bei einem Wettkampf als Eskimo bezeichnete: »Ich bin kein Eskimo, ich bin Wikinger!«

      Alle wissen um die vier Medaillen, die das Land bisher bei Olympischen Spielen gewonnen hat. Zufällig war ich im Jahr 2000 in Reykjavík, als Vala Flosadóttir im Stabhochsprung Bronze in Sydney holte. Die Zeitungen waren tagelang voll mit Informationen über sie, ihren Werdegang, ihre Familie und mit Beweisen dafür, dass sie tatsächlich Isländerin sei und nicht Schwedin, obwohl sie seit Jahren dort lebte. Dann versetzten die Handballmänner 2008 das Land in Ekstase, als sie in Peking die Silbermedaille holten. Übertroffen wurde dieses kollektive Glücksgefühl noch 2016, als sich Island erstmals für die Endrunde der Fußballeuropameisterschaft der Männer qualifizierte und dort England im Achtelfinale besiegte. Die isländischen Fans erlangten Berühmtheit, weil sie »die Jungs« frenetisch feierten, während der Spiele die Reykjavíker Innenstadt lahmlegten und mit dem víkingaklapp »Huh!« einen besonderen Schlachtruf etablierten. Die kollektive Stilisierung zu einem Volk von Wikingern erreichte ihren Höhepunkt in Plastikhelmen mit Hörnern und einer beachtlichen Häufung an Vollbärten. Es ist also davon auszugehen, dass spätestens seit 2016 auch die Isländer selbst davon überzeugt sind, von Wikingern abzustammen und nicht von siedelnden Bauern. Dass sie tatsächlich best í heimi sind, bewiesen sie 2018, als sie sich als kleinste Nation jemals für eine Fußballweltmeisterschaft qualifizierten und immerhin unentschieden gegen Argentinien spielten. Man stelle sich vor, eine Stadt wie Wuppertal hätte eine solche Mannschaft zustande gebracht. Dieser beachtliche Erfolg ist jedoch in erster Linie auf die jahrelange, kontinuierliche und professionelle Aufbauarbeit des isländischen Fußballverbandes KSÍ zurückzuführen und weniger auf vermeintlich wikingische Gene.

      Die Identifikation mit dem Land, dem Isländersein und dem Isländischsein mag manchmal zwar skurrile Züge annehmen, führt aber nicht dazu, dass nicht mehr über den Tellerrand geschaut wird. Gerade in Krisenzeiten sind die Isländer bereit, flexibel zu reagieren und auch das aufzugeben, das ihnen das Liebste ist: Island. So verließen zum Beispiel zwischen 1968 und 1970 viele Isländer ihre Heimat, da der Hering von einem Jahr aufs andere ausblieb und Familien plötzlich kein Auskommen mehr hatten. Bei der Wahl ihres neuen, oft nur zeitweiligen Domizils schwanken sie wieder zwischen Amerika und Europa. Halldór Laxness’ Figur Steinar Steinsson, Protagonist des Romans Das wiedergefundene Paradies, verkörpert genau diese Seite des Isländischseins. Bei einem Kopenhagenaufenthalt lernt er einen Mormonenpriester kennen und folgt ihm nach Utah, um schließlich doch nach Island zurückzukehren.

      1855 verließen tatsächlich einige Isländer die Insel in Richtung Utah, von einer Auswanderungswelle kann aber erst etwa 20 Jahre später die Rede sein, als eine kanadische Reederei beginnt, organisierte Fahrten gen Westen anzubieten und Menschen bzw. ganze Familien überall im Land zu rekrutieren. Die vorausgegangenen Jahrzehnte waren sehr schwierig gewesen, denn ein kalter Winter folgte dem nächsten, und ein heftiger Vulkanausbruch führte zu weiteren Missernten und Viehsterben. Trotzdem war die Bevölkerung stark angewachsen. Die Isländer entdeckten jedoch gerade erst zu dieser Zeit, dass der Fischfang nicht nur ein Zuverdienst im Winter oder etwas für arme Menschen ohne eigenes Land sein konnte, sondern sich durchaus zum Haupterwerbszweig eignete. Es brauchte noch ein paar Jahrzehnte, bevor sich die Schicht der Fischer entwickelte. Gleichzeitig war es dem Gesinde nicht gestattet, einfach einen eigenen Hausstand zu gründen. Es musste bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um heiraten zu dürfen. Gerade diesen Menschen eröffnete